Er kam tatsächlich noch einmal zurück! Durch das Milchglas der Eingangstüre war es deutlich zu erkennen, dass es mein Vater war, der die Steintreppe heraufstolperte. Dabei war er diese eben erst hinuntergestürmt, ausser Atem und in verstörter Hast,  weil er  schon viel  zu spät dran war. Rechtzeitig konnte er so bestimmt nicht mehr zur Arbeit kommen, es sei denn, er raste mit seinem Mercedes davon wie unlängst, was ihm darauf eine empfindliche Busse eingetragen hatte. Ich ahnte auch beim besten Willen nichts Gutes in dem Moment, in dem mein Vater die Türe aufriss: «Immer wegen dir! Komm jetzt einmal mit hinaus und schau dir die Bescherung an. Komm nur mit, und schau dir an, was mir wegen dir passiert ist!»
«Was ist denn nun schon wieder, wir haben uns eben erst gezankt, und damit muss doch einmal Schluss sein, und jetzt fängst du noch mal von vorne an!» 
«Ist es aber nicht, es ist nicht zu Ende. Nur wegen dir bin ich gegen den verfluchten Baum gegenüber auf der anderen Strassenseite gekracht. Die Kofferraumhaube ist eingedrückt, die Stossstange sowieso. Und das ist doch alles nur wegen dir!»
«Ja klar, du musst immer einen Sündenbock finden, Papa, es muss immer ein Sündenbock her, ohne geht’s einfach nicht. Es ist doch einfach nicht meine Schuld, wenn du nicht rückwärtsfahren kannst.»
«Werd nun nicht schon wieder frech! Sicher kann ich rückwärts fahren, das ist überhaupt kein Problem für mich, wenn ich nicht völlig mit den Nerven am Ende wäre. Das ist nur wegen dir so, deine Schuld ist’s, basta, basta, basta!»
«Ist es nicht, Papa, dein eigenes Problem ist es, wenn du nie weisst, wo du deine Sachen hingelegt hast, und wenn etwas dann nicht zu finden ist, kann ich doch nichts dafür, immerhin habe ich dir doch vorhin lange dein Gebiss suchen geholfen.» 
«Dabei aber immer herumgemault mit deiner frechen Röhre hast du, immer herumgemault und mich belehren wollen. Ich bin immer noch dein Vater, und dem gehört auch ein klein bisschen Respekt, der dir abgeht. Ich bin kein Dussel, auch wenn ich gegen den Baum gefahren bin. Du kannst dir eine Erhöhung des Taschengeldes gleich abschminken. Überhaupt möchte ich dir am liebsten gar keines mehr geben, weil du es schlicht nicht verdienst und mir ständig auf die Nerven gehst, du mühsamer Kerl von einem Sohn, du rotzfrecher Organismus!»
Und raus war er: die Eingangstreppe ein weiteres Mal hinuntergehetzt, sich in seinen ramponierten Mercedes gesetzt, und losgebraust war er – losgebraust ohne seine Zähne. 

Jetzt hielt er wohl einfach den lieben langen Arbeitsnachmittag die Hand vor den Mund, wenn er jemandem begegnete, so wie er es oft machte. Darin hatte er es zu einer eigentlichen Meisterschaft gebracht. Niemandem fiel jeweils etwas Aussergewöhnliches auf. Man musste darum wissen und meinen Vater gut kennen.   Bis am Abend, also bis etwa um zehn oder halb elf Uhr war er nicht zurückzuerwarten.

Ich verzog mich in mein Zimmer, im oberen Stock. Aber ich tat nur wenig Gescheites, womöglich sogar etwas höchst Hinterhältiges.  Ich hätte zu lernen gehabt, für eine Prüfung bei Prof. Dr. Lehmann, der erst kurz davor den begehrten Professorentitel geschenkt erhalten hatte und mit gespielter Bescheidenheit und Zurückhaltung unentwegt bemerkte, dass der Titel einfach eine Alterserscheinung wäre. 
Die Prüfungen in seinem Fach Geografie waren meist etwas bösartig angelegt und folgten stets dem selben Muster. Viel zum Lernen gab es jeweils, wahnsinnig viel, blödsinnig viel für eine Prüfung und folglich ebenso blödsinnig viel zum wieder Vergessen. Also bereitete ich mich wie gewöhnlich auf seine Ermittlungen zum Schülerwissen vor – jedoch ohne Auswendiglernen tat ich das, und das ging so: 
Ich nahm einen karierten A4-Block, einen neuen versteht sich, denn ich benötigte den ganz gehörig dicken, aber eben nur winzigen Notizblock  mit den rückseitig verleimten Papierrestchen am oberen, perforierten Rand. Dazu musste ich leider gut die Hälfte aller A4-Blätter wegreissen. Aus der Schublade holte ich darauf meine schwarze Tinte, die ich ansonsten zum Zeichnen brauchte, weiter eine spitze Feder und einen Federhalter. Akribisch schrieb ich mir alles, was ich nicht lernen wollte, in den oberen Block, winzig klein, ohne verräterisches Geschmiere. Zwischen den grossen Blättern zeichnete ich Karten, nicht zu genaue versteht sich, denn immer wollte der Lehmann bei einer Prüfung Karten gezeichnet sehen. Damals ging es um Ägypten. Also zeichnete ich auf ein ganzes Blatt irgendwo im Restblock eine, nein etwa drei hübsche, aber locker hingeworfene Karten von Ägypten, alle mit Hilfe des Atlas’: eine mit landwirtschaftlichen Produkten. Fast überall wurden übrigens Datteln geerntet und exportiert. Eine weitere Karte gab die Übersicht über Industriestandorte und die dritte schliesslich zeigte den herrlichen Assuanstaudamm. Noch ein jedes Mal hatte ich eine davon brauchen können, und ich hatte sie dann nur noch flink herauszureissen und auf den Arbeitstisch zu legen. Das Kratzgeräusch dabei war jeweils völlig unverdächtig. 
Oft erwischte Professor Lehmann in den vielen Prüfungen einen, nicht selten zwei seiner Alumnen, männlichen oder weiblichen Geschlechts. Letztere schoben ihre Spickzettel gerne unter den Minirock, in eine heikle Nähe, des Ortes, an dem der Professor nicht nachschauen durfte. Aber er merkte es gleichwohl, wenn jemand ständig dem Bauch entlang hinunterschielte und mit dem Stuhl auch noch ein bisschen zurückrutschte, um auf dem Oberschenkel die präparierten Notizen  lesen zu können. Ausserdem musste jeder Schwindelmeier oder eben Schwindelmeierin mit der Hand zum Schoss greifen, um das Zettelchen hervorzuklauben, ein Bewegungsablauf, der zum Schreiben einer Prüfung vollkommen unnötig war, da nicht hingehörte und überdies ein ganz ungewöhnliches Bewegungsbild abgab.  
Dem Professor Lehmann entging solch auffälliges Benehmen fast nie. Er hockte sich nämlich hinter die Klasse mit seiner Tageszeitung und tat so, als ob er darin etwas Wichtiges zu lesen hätte. Das hatte er indessen keineswegs , sondern er sperberte nach Auffälligkeiten. Unvermittelt stand er dann neben einem und hiess einen aufstehen. Dann suchte  er aufgeregt überall herum: in den Blättern auf dem  Schreibpult, im Etui, guckte auf Händen und auf Unterarmen nach Kugelschreibernotizen. Leider konnten die Spickzettel den jungen Damen dieserart leicht aus dem Minijupe hervorflattern. 
Mich erwischte er nie, kein einziges Mal, und ich hielt eisern dicht. Wegen der schwatzhaften Annegret womöglich, die sich beim Professor unentwegt Liebkind machen wollte. Dabei muss man wissen, dass sich der Professor neben den geografischen Wissenschaften auch gerne in die Morphologie der weiblichen Körperoberfläche vertiefte – optisch natürlich, nur mit harmloser Lüsternheit.  
Die ganze Schulzeit hindurch verriet ich meinen Trick nie, prahlte und triumphierte damit auch nicht, sondern ich behielt immer alles schön für mich. Das fiel mir sehr schwer, denn ich hätte mich doch gerne auch einmal ein bisschen aufgespielt. Leicht von der Hand hingegen ging das Ablesen meiner Notizen während der Prüfungen: den Kugelschreiber in das Papierbündelchen am oberen Rand des Blockes gesteckt, darauf den Kugelschreiber von links nach rechts geschoben, die Blättchen aufgestellt, die Notizen gelesen und alsogleich unten aufgeschrieben. Die Blättchen kappten von selbst wieder zu, und nichts Auffälliges war zu bemerken, rein gar nichts. 
Gut, ein schlechtes Gewissen hätte ich vielleicht haben sollen. Das hätte mir wohl angestanden. Ich empfand indessen nie so, denn all die Notizen in millimetergrossen Lettern gaben immerhin stattliche Arbeit, und ich lernte dabei auch etwas, zwar nicht gerade viel, aber nach der Matura wussten alle anderen auch nicht mehr.

Nun, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie lange mich das Anfertigen der Notizen für den Spick beansprucht hatte, aber so gegen fünf Uhr  Abends fläzte ich mich aufs Bett und dachte nach. Etwa gar nicht an die Prüfung, sondern an meinen Vater. Und der tat mir schon ein bisschen leid, so ganz ohne seine Zähne an der Arbeit und sowieso, er konnte doch rein nichts dafür, dass er keine Zähne mehr hatte und unten und oben ein Gebiss brauchte, das ihm auch noch ständig schmerzte. Er konnte nichts dafür. Ansonten hatte er sich gewiss stets um seine Körperpflege bemüht, aber als er Kind war, schien es seinen Pflegeeltern nicht so vonnöten, für Zahnpasta Geld auszugeben. Er war ja nur der Pflegebub, und die Bauersleute im Wallis hatten eh für sich selber nur das Nötigste. Da kann man sich schon denken, dass sie meinten, es gäbe vernünftigeres Tun, als das Zähneputzen. So kam es, dass mein Vater schon mit vierzig Jahren gar keine Zähne mehr zum Putzen hatte.
Obwohl wir beide, mein Vater und ich, uns damals ständig aneinander etwas rubbelten und oft miteinander nur schlecht und recht zurande kamen, dachte ich nach, wo denn um Himmels willen meines Vaters Zähne hätten sein könnten. Ich fand es tatsächlich heraus, gar nicht mal nach so langer Zeit. Ganz klar war es mir plötzlich, wo sie geblieben sein mussten. Absolut sicher konnte ich zwar nicht sein, aber fast ganz sicher waren sie in der Stadt drin, während wir weit draussen auf dem Land wohnten. Allein, Kleidergeschäfte gab es damals nur in der Stadt. Ich stellte mir meinen Vater vor, sah ihn vor mir, und sah bildhaft seine typische Bewegung: Hand vor den Mund, blitzschnell Zähne aus dem Mund, Hand verschwindet in der Hosentasche. So tat er es immer, wenn sie ihn schmerzten und wenn er sich unbeobachtet fühlte. 
Obendrein: Tags zuvor waren Vater und Mutter in der Stadt. Männer konnten damals nicht alleine einen Anzug kaufen, da mussten die Ehefrauen immer mit: in die Tuch AG oder in den PKZ oder vielleicht in den Herren Globus. In einem dieser Herrenmodegeschäfte waren die Zähne meines Vaters geblieben: in irgendeiner anprobierten Hose drin!

Als spätabends der Vater nach Hause kam, war er friedfertig, erschöpft und hundemüde, immer noch besorgt, hatte tiefschwarze Augenringe, weil ihn die Schichtarbeit sehr belastete. Auf den Spätdienst folgte jeweils noch der Nachtdienst, und tagsüber konnte mein Vater leider nur sehr schlecht schlafen.
Ich ging in die Küche hinunter. Mein Vater sass am Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und presste den Mund zusammen. Er sah schon alt aus, ausgelaugt wirkte er auf mich, und ich erschrak, als mir bewusst wurde, wie die Jahre an meinem Vater nagten. 
«Du Paps, ich weiss, wo deine Zähne sind.»
«Ach lass das,  das glaubst du ja wohl selber nicht.»
«Doch, ich weiss es.» 
«Sei doch jetzt still, ich ertrag’s nicht mehr!»
«Ich mache keine Witze. Die sind in Zürich.» 
«Was erzählst du da für einen Blödsinn, du spinnst doch wohl ein bisschen.»
«Doch die sind in der Tuch AG, im PKZ oder im Herren Globus. Überleg mal, was du immer machst! Was hast du in der Garderobe hinter dem Vorhang gemacht, als dir die Zähne wehgetan haben?»

Am Tag drauf rief er an, nur einmal. Schon im ersten Modegeschäft, im Herren Globus, lag er richtig, soweit ich mich erinnern kann. Er musste recht lange am Wandtelefon warten. Der Verkäufer ging nachschauen. Es gab halt einige Hosen zu durchsuchen. Ich stand neben dem Vater und versuchte,  das Gespräch mitzubekommen. Aber das musste ich nicht, ich musste gar nichts hören. Ich konnte es sehen, dass der Verkäufer die Zähne gefunden hatte. Ich sah es meinem Vater an. Nicht nur der Ärger, auch die Erleichterung spiegelte sich in seiner Mimik,  und man sieht, wenn sich die Muskeln entspannen und sich an Wangen und  Schläfen lösen. Mein Vater hängte das Telefon an die Wand zurück: «Bist halt doch ein kluges Kerlchen, also wirklich, ein kluges Kerlchen bist du manchmal trotzdem. Ich kann mir das mit der Erhöhung des Taschengeldes ja noch einmal überlegen. Ich überlege es mir noch einmal. Du könntest aber, wenn schon, dann noch etwas Weiteres dazutun.» 
«Was denn noch? Ich habe schliesslich lange nachgedacht, den ganzen Nachmittag lang habe ich überlegt, wo denn deine Zähne sein könnten. Dabei hätte ich für die Geografieprüfung lernen sollen. Also ich meine, ich habe nun doch schon einiges dafür getan und meine wichtige Zeit zum Lernen  sogar für dich geopfert.»
«Ja weisst … , weisst die Sache … das ist mir doch sehr peinlich.»
«Das glaube ich dir schon, dass dir das peinlich ist. Das wäre es mir auch.»
«Ich trau mich doch nicht, ich muss mich doch schämen, vor den jungen Verkäufern, diesen Modegecken, wenn ich in das Geschäft gehen muss, das ist mir doch so etwas von peinlich. Mich schauen doch alle an. Die lachen mich doch aus, die lachen doch über den zahnlosen Alten, vielleicht nicht offen, hinterrücks dann.» 
«Das ist doch nicht so schlimm, du musst halt da durch, du siehst es ja nicht.»
«Schon, aber das müsste nicht unbedingt … das könnte doch auch anders …ich meine für eine Erhöhung des Taschengeldes könntest du  doch …  .»

Nun, ich tat es für ihn. Schliesslich hatte ich für diese Peinlichkeit sehr viel Verständnis. Mit dem Fahrrad strampelte ich an den Bahnhof Dübendorf. Dort nahm ich die Bahn bis in den Hauptbahnhof Zürich, und von da war es nicht mehr weit bis zum Herren Globus an der Löwenstrasse.
Der Verkäufer übergab mir die Zähne sehr diskret. In weisses Seidenpapier hatte er sie eingewickelt, und niemand lachte im Geschäft oder guckte dümmlich. Keiner der drei Angestellten zwinkerte mir fraternisierend zu, keiner verbiss sich ein Lachen. Allen schien die Sache auf eine Art unangenehm zu sein. 
Mir indessen nicht; es war für mich ein lohnender Ausflug in die Stadt, da mir die Angestellten, diese Modegecken im Kleidergeschäft, einen sehr grossen Respekt abrangen: so viel Verständnis, so viel Einsicht, so viel Mitgefühl und rein gar nichts von Häme! Sehr versöhnlich stimmte  mich das mit der Welt!

Ach ja: die Geografieprüfung. Es lief alles gut. Für einmal erwischte Professor Lehmann niemanden. Die Note war unauffällig wie immer: eine 4-5, also genügend bis gut, diese Allerweltsnote für ängstliche Lehrer und faule Schüler.