Sie stöhnen und ächzen, kreischen und heulen. Sie fallen in Ohnmacht, nachdem sie eine Attacke von Schnappatmung durchgemacht haben. Die Schminke an Augen und Gesicht fliesst zusammen mit den Tränen ineinander zu einer schmierigen Farblösung, die aus den Faces der Zahnspangengirls Haloweenmasken macht. Sie spielen ihre Rolle gut und sind sich selber Publikum.
Aber was um Himmels willen ist denn geschehen?
Gar nicht mal so viel. Es ist lediglich eine Gruppe musikalischer Analphabeten grinsend und winkend vorbeigeschwänzelt, eine prominente Boygroup.

Was? So böse, so negativ destruktiv, so überheblich dünkelhaft, so besserwisserisch! Warum denn nur?
Darum: Ich verbrachte einmal mit einer Abschlussklasse im Tessin eine Landschulwoche. Klassenlager nannte sich das an den Zürcher Schulen. Weshalb weiss kein Mensch. Vielleicht gemahnt das Wort Lager ja an ein Lagerleben mit einem tüchtigen Schuss Romantik. Einem Klassenlager konnte ich allerdings nie etwas Romantisches abgewinnen. Die Jugendlichen halten einen auf Trab, auch des Nachts, und zum Schlafen kommt man so weniger als im Militärdienst.
Aber zurück zum Tessin:
Im Frühsommer ist es da schon sehr warm. Und hügelig ist es auch. Damit nun die pubertierenden Damen und Herren abends schön müde wären und allen Schabernack für einmal vergessen würden, machten wir eine tüchtige Wanderung. Die ging hoch hinauf auf den Monte San Salvatore. Oben hat es eine Beiz. Ich lud die verschwitzte Bande zu einem Getränk ein.

Und da fing alles an: Allesamt, hauptsächlich aber Männlein, bestürmten sie mich, ihnen doch ein Panaché zu spendieren. Das verstand ich natürlich angesichts der Hitze. Der guten Ordnung halber musste ich wegen dem Alkohol dagegen sein. Meinen Widerstand brachen sie jedoch mit Leichtigkeit, waren aber sofort einverstanden damit, dass ins Glas mehr Zitronenlimonade als Bier käme.
Auf dem Abstieg passierte es unverhofft: Martin gab ein eigenartig unartikuliertes Gebrabbel von sich und plumpste auf den Hosenboden. Dann stimmte er einen Sprechgesang an, worin er verkündete, er sei besoffen. Das nahm ich natürlich nicht weiter ernst, bis es ihm fast die ganze Klasse gleichtat. Alle torkelten umher, rülpsten, stolperten durch die Landschaft und fielen auf ihren Allerwertesten, ohne sich allerdings auch nur ein einziges Mal wehzutun.

Da hatte ich nun den Salat! Es war nicht auszudenken, mit einer solcherart eingestimmten Schulklasse in die Unterkunft in Magliaso heimzukehren. Da hätte ich dann weit mehr zu ertragen gehabt, als die entrüsteten Blicke der vielen Wanderer im Pensionsalter. Mir war klar, dass es keinen Sinn machte, die Possenreisser zur Vernunft zu rufen.
Was aber tun?
Vom psychologischen Phänomen der Stimmungsübertragung habe ich gelesen, allerdings nie eine praktikable Regieanweisung für ein ausser Kontrolle geratenes Theater.
Zum Glück gibt es in jeder Klasse ein Schnatterinchen. Das sind jene Mädchen (meist sind es Mädchen!), die dem Lehrer ständig die Ohren vollplappern. Alles wollen sie erzählen: vom Papi, vom Mami, Grossmami, Grosspapi, vom Hündchen und dem Büsi beim Tierarzt … In dieser Klasse war Desirée die Schnatterklette, die ständig neben mir, vor mir und hinter mir einhermarschierte und mich unentwegt bequasselte.
In listiger Absicht vertraute ich ihr ein Geheimnis an.
«Wie fühlst du dich, wie geht es dir? Spürst du nichts im Kopf?»
«Im Kopf, wieso?»
«Weil die anderen doch meinen, sie seien betrunken, aber weisst du, das ist völlig unmöglich. Die tun nur so. Die machen alle ein Theater. Ich habe die Wirtin nämlich geheissen, alkoholfreies Bier in die Gläser zu füllen. Das merkt man gar nicht. Verrate denen aber ja nichts!»

Eine ganz schöne Weile geschah nichts Besonderes mehr, aber dann verflog der neblige Kopf beim ersten, dann beim zweiten und schliesslich auch beim hintersten Gaukler. Selbstverständlich hatte mich Desirée kurzfristig mal alleine gelassen.

Genauso hatte ich es mir ausgedacht.