«Sonst noch was, ja? Das kommt schon gar nicht in Frage. Ich nehme keinen –itsch- mehr. Mit denen habe ich nur schlechte Erfahrungen gemacht.»
«Aber Herr Honegger, sind das nicht einfach Vorurteile? Wie kommt denn so was überhaupt zustande? Da müssen Sie aber grauenhafte Erfahrungen gemacht haben.»
«Habe ich, mit denen hatte ich   n u u u u r   Aerger und Stress. Und wenn ich mal einem von denen ein bisschen Feuer unter dem Hintern machte, dann kreuzte die ganze Sippe auf und veranstaltete ein Heidentheater. Nein, nein, da musste ich mir von allen Seiten Drohungen und Beschimpfungen anhören, etwa vom Onkel oder vom Vater oder von weiss nicht von wem.
Das sage ich Ihnen: Von denen habe ich die Nase voll, endgültig voll. Das ist ein Pack. Ich nehme keinen –itsch- mehr. Weder als Lehrling noch als Arbeiter, das habe ich mir geschworen.»
«Aleksander ist da vielleicht die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigen soll, da bin ich mir eigentlich sicher. Ich hatte noch nie einen derart aufmerksamen und zuverlässigen Schüler. Ausserdem ist er fleissig und hilfsbereit.»
«Ja was, die –itschs- kommen immer zu spät. Die tauchen am Morgen auf, wann es ihnen gerade so passt und der Aleksander Danič wohnt eh zu weit weg. Der kommt dann sowieso jeden Morgen zu spät.»
«Aber er hat doch ein Kleinmotorrad, mit dem wird er es leicht zu Ihnen ins Nachbardorf schaffen, rechtzeitig.»
«Ja, falls er am Morgen auch aus dem Nest steigt, auch wenn er noch ein bisschen müde ist und Schlaf in der Birne hat.»
«Aber das hat er in der Schnupperlehre bei Ihnen bewiesen, oder nicht? Jedenfalls hat mich Aleksander so informiert. Und Ihr Vorarbeiter hat auch nur Lobendes über ihn zu berichten gewusst, Battaglia heisst der, wenn ich mich recht erinnere.»
«Ja gut, das stimmt schon, für diese Woche hat er sich tatsächlich am Riemen gerissen. Für eine Woche kann das doch jeder, und dann ist sein Kleinmotorrad in einem miserablen Zustand, haben Sie das mal gesehen? Eine erbärmliche Klapperkiste. Ich habe mir das angeschaut. Hält nicht mehr lange durch. Ist ja auch kein Wunder. Man weiss ja, dass die jungen Kerle ständig an den Motoren herumfeilen und daran schrauben. Das gibt dann Lärm und Tempo. Das weiss man ja.»
«Daran soll es nicht liegen. Ich halte viel von Aleksander, so viel, dass ich ihm ein neues Kleinmotorrad kaufen würde. Er braucht die Lehrstelle, und die Mutter braucht das auch, dass ihr Sohn eine Lehrstelle und eine geregelte Arbeit hat. Der Frau Danič geht es nicht gut. Sie kann sich als Putzfrau kaum über Wasser halten, und er kann nicht einfach den ganzen Tag herumhängen und der Mutter auf der Tasche liegen. Sie wissen ja, was daraus wird, wenn die Jungen keine Arbeit finden und nur herumlungern. Das wollen weder Sie noch ich. Das gibt letzten Endes eine soziale Katastrophe. Es kann ja nicht sein, dass Aleksander nur wegen seinem Familiennamen keine Lehrstelle erhält.»
«Ist aber so, und das ist doch nicht mein Bier. Ich kann nicht für alles verantwortlich sein. So ein grosses Unternehmen habe ich nun auch wieder nicht. Wir sind nur ein kleiner Sanitär- und Heizungsbetrieb, Honegger und Sohn, mit vier, manchmal fünf Angestellten. In Dübendorf gibt es grössere Betriebe.»
«Klar, das verstehe ich, aber es könnte doch auch mir vollkommen egal sein, ich bin als Lehrer auch nur eine Nummer in der ganzen Gesellschaftsmaschinerie, aber wir haben Verantwortung und noch einmal: Ich kaufe ihm ein neues Kleinmotorrad wenn es denn sein müssste. Er kann es mir dann ratenweise vom Lehrlingslohn zurückzahlen, einen Teil wenigstens, das reicht. Er verdient Unterstützung. Seine Mutter hat eh nichts und er auch nicht.»
«Das würden Sie tun?»
«Das würde ich tun.»
«Das Geld sehen Sie nie mehr!»
«Ich würde es trotzdem tun und ich nähme das Risiko auf mich. Es ist meiner Ansicht nach gar keines. Der wird mir sicher alles unbedingt zurückgeben wollen – so wie ich ihn kenne.»
«Hm, ja gut, sind Sie sich da ganz sicher?»
«Bin ich mir, ich bin mir da ganz sicher.»
«Hm, ja gut … »

Am Telefon entstand eine Pause, eine lange Pause, die ich nicht unterbrechen wollte. Vielleicht hätte ich das geschickter anstellen können, aber ich hatte nie eine Verkaufsausbildung gemacht und hakte nicht nach, ich wusste gar nicht, wie das zu machen gewesen wäre. Vermutlich hätte ich zu diesem Zeitpunkt Argumente nachschieben müssen, eins nach dem anderen oder immer wieder dasselbe mit Variationen, Hauptsache, den Honegger in der Verunsicherung bestärken, einen Sinneswandel herbeiführen, oder zumindest ständig drauflosreden, damit er nicht in die angestammte Position zurückfallen könnte.  Das allerdings mochte ich so nicht tun. Ich bin ja kein Staubsaugerverkäufer, ich wollte Aleksander nur helfen, dass er eine Lehrstelle bekam. Weil er sie verdiente. Drei Vierteljahre lang gab er sich so viel Mühe, wie ich es noch nie von einem Schüler erlebt hatte. Eine Lehre als Sanitär- und Heizungsmonteur würde zu Aleksander passen, warum wusste ich eigentlich auch nicht. Im Grunde war es mir egal, was er machen würde, wenn er nur etwas tat und einen Beruf erlernte. Differenziert war er bestimmt nicht. Ihm kam es gar nicht darauf an, was er tun würde. Dass er etwas tat, das war entscheidend.
Ein dienliches Ende nahm das Gespräch mit Herrn Honegger dann doch noch:

«Hm, vielleicht … Ja, wenn Sie so von Aleksander überzeugt sind, dann kann ich mir die Sache vielleicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich rede noch einmal mit meinem Vorarbeiter… ja gut. Der hat mit Aleksander eine Woche zusammengearbeitet. Aber das ist ein Italiener, ein gutmütiger.  Der redet nur positiv von allen anderen. Ein braver Kerl ist der, ein Italiener halt. Die sind so, aber ich rede noch mal mit ihm. Ja gut, ich schaue mir die Sache noch einmal an … ja gut.»
«Das würde mich freuen. Das freute mich für Aleksander und für seine Mutter.»
«Ja gut … Sie werden dann von Ihrem Schüler hören, wie es bei mir weitergeht.»
«Gerne, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend und danke für das Gespräch.»
«Ja, schon gut, nichts zu danken. Ich überleg’s mir also noch mal, aber Sie dürfen sich da nicht zu viel Hoffnung machen, ja nicht zu viel, gute Nacht.»
«Gute Nacht.»

****

«Hallo, da ist Vroni, Vroni Winter von der Schulpflege.»
«Guten Abend Vroni, aber das weiss ich doch, dass du von der Schulpflege bist.»
«Ja klar, Entschuldigung, war doch nur so dahergesagt. Wie läuft es dir mit der Abschlussklasse. Man hört viel Gutes.»
«Das freut mich, dass über mich geredet wird, besonders wenn Gutes dabei rauskommt. Vielleicht kommt dir anderes einfach nicht zu Ohren.»«Na komm, du musst doch jetzt nicht einfach tiefstapeln. Kannst dich doch freuen, dass du in der Gemeinde eine gute Presse hast.»
«Presseberichte sind kurzlebig, weisst. So gesehen sind sie rasch aus dem Sinn der Leute, gleichentags im Altpapier, und das wird ja nicht wegen der Berichte gesammelt, sondern wegen dem Papier. Das kann man wiederverwenden. Die Berichte kaum.»
«Mach jetzt nicht auf Pessimismus, aber darüber wollte ich nicht mit dir reden. Es geht um Aleksander Danič. Der kam vor vier Wochen aus der Schule, war ein Schüler von Gauthier Meyran, du kennst ihn.»
«Ja, den Gauthier natürlich schon, aber Aleksander Danič? Der ist mir nicht präsent. Müsste ich den kennen?»
«Gemäss Gauthier eigentlich schon. Ein sehr auffälliger Schüler, wie er ihn mir geschildert hat. Fast eine Lichtgestalt, wie man sie selten in der Schule antrifft – also immer nach seiner Schilderung. Übrigens auch körperlich auffällig, der müsste dir auf dem Pausenplatz aufgefallen sein: gross, sehr gross, schlank, kräftig gebaut mit dichten dunklen Haaren.»
«Weisst du Vroni, auf dem Pausenplatz sind 200 Schüler in der Pause, wenn die Primarschüler dabei sind. Da ist mir der besagte Aleksander Danič nicht aufgefallen. Tut mir leid.»
«Ach, macht doch nichts. Aber der macht mir Sorgen. Eigentlich müsste ich mich nicht mehr darum kümmern, der ist ja aus der Schule ausgetreten und geht uns nichts mehr an, aber gleichwohl.»
«Worum geht es denn, jetzt machst du mich neugierig. Wie kommt es, dass dir eine Lichtgestalt Sorgen macht. Dem Namen nach ist Aleksander ein Jugo, nicht?»
«Ja schon, er spricht aber ausgezeichnet Deutsch. Da merkst du nichts.  Ist ja auch schon einige Jahre hier in der Schweiz. Ich weiss aber nicht genau, wann die Familie gekommen ist. Die Mutter ist mittlerweile alleinerziehend, und das hat Aleksander wohl etwas aus dem Gleis geworfen.»
«Ist ja verständlich, ich sehe da aber meine Rolle noch nicht.»
«Er hat seine Lehre als Automonteur geschmissen, und liegt jetzt einfach den ganzen Tag im Bett rum und schaut fern. Die Mutter kommt mit ihm nicht zurecht, der Vater macht sich rar.»
«Wie kommt es denn, dass du dich da drum kümmerst, das ist doch ein Fall für den Sozialdienst.»
«Schon, der Ritter vom Sozialdienst ist auch an mich gelangt und hat sich erkundigt, ob da nicht die Schule etwas machen könnte.»
«Ja wie denn, der ist ja ausgetreten? Der hat die Schule doch abgeschlossen.»
«Da könnte er ja nochmals eintreten und noch ein Jahr machen und ein bisschen Schulstoff wiederholen.»
«Ach da lang läuft der Hase. Das ist ja ganz und gar ungewöhnlich.»
«Aber weisst, vielleicht liegt eben die Lösung oft im Ungewöhnlichen und Unkomplizierten. Wir müssten das einfach so unter der Hand machen, ohne viel Aufhebens und ohne Bürokratie. Ich kenne dich doch, das ist ja auch in deinem Sinn. Was wollen wir da alle Ämter noch einschalten. Das geht monatelang, bis die zu einem Entscheid kommen und die Bezirksschulpflege darüber verfügt. Da verstreicht wichtige Zeit, besonders für einen absturzgefährdeten Jugendlichen.»
«Und ich habe eine Abschlussklasse, da soll er vermutlich zu mir kommen.»
«Genau, das haben wir uns so gedacht. Wir haben in der Schulpflege schon darüber gesprochen. Du hast eine kleine Klasse. Es läuft gut bei dir. Ich sagte das ja schon.»
«Dann war das Lob ein strategisches.»
«Ach komm jetzt, sag das doch nicht. Du weisst ja, was die Behörde von dir hält. Betrachte es doch auch ein bisschen als eine Auszeichnung, dass man an dich gedacht hat. Jedenfalls konnten sich alle Behördenmitglieder mit dem Gedanken anfreunden und sind sich sicher, dass Aleksander bei dir gut aufgehoben wäre. Ich bin beauftragt, mit dir darüber zu reden, und man will dir auch zugestehen, dass du selbstverständlich nein sagen darfst. Das ist dein gutes Recht, und niemand würde es dir übelnehmen. Ich jedenfalls wüsste niemanden, der dir das nachtragen würde. Der Schüler wird keine Hypothek für dich sein. Er ist pflegeleicht und wie gesagt fast eine Lichtgestalt von einem Jugendlichen wie es Gauthier geschildert hat. Aber es ist dir selbstverständlich …»

Nach ein paar Tagen kam der Aleksander tatsächlich zu mir in die Klasse. Natürlich informierte ich die Schüler im Voraus darüber. Um Verständnis für eine aussergewöhnliche Situation bat ich und darum, dass der neue Schüler wohlwollend aufgenommen werde. Er sei etwas entgleist und hätte es doch nicht leicht, weil er ja darunter zu leiden habe, dass die Eltern sich getrennt hätten.
Das war eine verdammte Dummheit von mir, denn Stephanie und die Zwillinge Bojan und Goran litten auch darunter, dass die Eltern getrennt waren, und wer hatte denn Verständnis für sie? Die unangenehme Stimmung, die eben aufkam, war für alle etwas irritierend. Da kam mir Vesna zu Hilfe. Sie fand es «läss, cool und megageil», dass noch ein Jugo in die Klasse kam und tat das laut kund.   Ausserdem kannte sie den Aleksander und begann gleich von ihm zu schwärmen: «supercool» sei der und aussehen würde er auch toll, «superbody». Ich war ihr dankbar, für einmal dankbar für das hormonell aufgeladene Vesna-Geplapper, mit dem sie mir zu Hilfe kam und meine Ungeschicklichkeit vergessen liess.
Er integrierte sich tatsächlich gut in der Klasse, der Aleksander, und er machte nie irgendwelche Probleme, zu keinem einzigen Zeitpunkt und unter keinen Umständen. Im Gegenteil: Nie hatte ich vorher einen derart anständigen, aufmerksamen, einfühlsamen und hilfsbereiten Schüler. Ich konnte das eigentlich überhaupt nicht fassen, irgendwie war es unwirklich.

In der Regel gab es zum Beispiel nach dem Werkstattunterricht stets ein Gezänk und Gezeter, wenn es Zeit zum Wischen war. Und das, obwohl ich eine Liste führte. Ein Grund zum Meckern fand sich immer: «Ich war letztes Mal schon dran, gemein, immer ich, die Liste stimmt doch nicht» – eine nie enden wollende Litanei von Gejammer. Und dann kommt der Aleksander in die Klasse und fragt schon nach dem ersten Mal in der Werkstatt, ob er wischen dürfe, ob er die Tafel putzen könne, ob er noch etwas helfen könne oder ob es sonst irgendwo was zu tun gäbe. Auch machte er sich ohne nachzufragen am Ende des Tages ans Werk im Schulzimmer. Er fand allemal eine Ecke, in der es etwas zum Aufräumen oder Herrichten gab und sei es nur ein Stapel Blätter, den man neu bündeln müsste. Den konnte man also akkurat richten, so dass sich alles präsentierte, wie auf einer Büromesse.
Nicht nur eine Woche lang tat er das. Über Wochen blieb er dran, über Monate sogar, bis etwa fünf Wochen vor Schulschluss. Dann blieb er eines Tages ohne irgendwelche Nachrichten einfach weg, fehlte mir nichts dir nichts mehrere Tage, kam immer zu spät, wenn er schon mal in die Schule kam, und er dachte nicht daran, einen Finger zu rühren, wenn es ums Helfen oder ums Aufräumen ging. Da liess er allen anderen immer grosszügig den Vortritt.
Wie kommt so etwas? Wie kam es zur Verwandlung von der engelhaften Lichtgestalt zur gleichgültigsten Leck-mich-am-Arsch-Figur, die man sich vorstellen kann?
Gegen Ende des Schuljahres machte die ganze Klasse ein einwöchiges Berufspraktikum. Alle suchten sie sich eine Praktikumsstelle in einem Betrieb. Ich ging in dieser Woche bei allen mindestens einmal auf Besuch und erkundigte mich nach den Befindlichkeiten der Schüler und der Betriebsinhaber. Aleksander machte ein Praktikum als Sanitär- und Heizungsmonteur in der Firma Honegger und Sohn in Dübendorf.  Ich besuchte ihn auf einer Baustelle, wo er zusammen mit dem Vorarbeiter daran war, Rohre zu verlegen. Der Vorarbeiter, ein väterlicher Italiener, war voll des Lobes für Aleksander. Noch nie hätte er einen derart aufmerksamen und fleissigen Praktikanten gehabt. Auch Aleksander selber zeigte sich begeistert von der Arbeit und sehr zuversichtlich, dass er bei Honegger und Sohn endlich eine Lehrstelle bekäme, für allesamt unvorstellbar, diesbezüglich überhaupt irgendwelche Zweifel zu haben.

Und doch kam es anders: Wenige Tage nach dem Ende des Berufspraktikums kam Aleksander ganz aufgelöst zu mir und klagte, dass der Honegger ihm keine Lehrstelle gäbe. Begründet hätte er dies nicht, nur angemerkt, dass er sicher immer zu spät zur Arbeit kommen würde mit seinem Knatterding von Kleinmotorrad. Aber das stimme doch nicht, er könne das doch locker selber reparieren, sein Vater würde ihm dabei helfen, das käme schon gut, ganz bestimmt. Aber er hätte eben kein Geld für Ersatzteile und so. Auf die Nachfrage, wie viel Geld er denn noch benötige, nannte er die Summe von einhundert Franken, die ihm noch fehlen würde. Ich versprach ihm, das Geld vorzuschiessen, aber erst kurz von den Ferien, damit das Motorrad dann nach den Ferien noch in gutem Zustand wäre. Er könne mir dann ja von seinem ersten oder zweiten Lehrlingslohn das Geld zurückzahlen.  Ausserdem versprach ich ihm, mich mal mit Herrn Honegger in Dübendorf zu unterhalten.

Bald darauf kam Aleksander eines Morgens freudestrahlend in die Schule und berichtete, dass er den Lehrvertrag erhalten hätte und er jetzt zum vollständigen Glück nur noch die einhundert Franken bräuchte zur Reparatur seines Kleinmotorrads. Er solle sich gedulden bis kurz vor den Ferien und dem Ende des Schuljahres, da würde er das Geld von mir schon bekommen, gab ich ihm jeweils  zur Antwort, wenn er immer wieder neu insistierte.  Doch Aleksander liess nicht locker, der dachte gar nicht daran, lockerzulassen. Ständig kramte er Argumente hervor, die es doch unbedingt sinnvoll erscheinen lassen sollten, dass er das Geld jetzt und nicht später bekäme, und schliesslich rührte er an einem sehr diffizilen Feld meiner Seele: Sein Vater würde sich wieder um ihn kümmern, und der sei ein sehr geschickter Mechaniker. Man wisse nie, wann er dann wieder verschwinden würde und er müsse die Gelegenheit nutzen, wenn er schon mal …
Ich gab ihm das Geld, und er mir das Versprechen, dass er es sobald als möglich zurückzahlen werde.

Daraufhin fing es an mit der Schwänzerei und dem Zuspätkommen.
Zweifel begannen nun an mir herumzunagen, wie ein ausgehungertes Wasserschwein an einer Zuckerrübe.  Hatte ich alles richtig gemacht? Sollte ich vielleicht nochmals mit Herrn Honegger Kontakt aufnehmen? Aber würde ich nicht dadurch vielleicht Aleksanders Zukunft zerstören?
Ich unternahm gar nichts, verdrängte alles und freute mich nach den Sommerferien an meiner neuen Klasse. Aleksander vergass ich einfach, das heisst: So etwas geht natürlich nicht, aber ich dachte einfach nicht mehr an die Sache, wollte nicht mehr daran denken. Man könnte das auch Verdrängen nennen, wenn man will, was soll’s.

Ich lebte unauffällig und zufrieden mein Lehrerleben. Niemand tat mir etwas Böses an und auch ich tat niemandem etwas zuleide.Zwei Jahre etwa vergingen. Da bekam ich einen sehr aufgeregten und gehässigen Telefonanruf von meinem Vater:

«Was fällt dir denn auch immer ein! Schämen muss ich mich für dich. Immer muss ich mich für dich schämen!»
«Ja danke für das nette Kompliment, was hast denn du für ein Problem?»
«Du bist mein Problem. Du machst mir Probleme, weil du mir Schande machst.»
«Aha, Schande mache ich dir. Schande bringe über dich und die ganze Familie! So, so, ist ja mal etwas anderes zur Abwechslung, nicht Sorgen sondern Schande. Und was soll ich jetzt tun?»
«Das hättest du ja schon längst tun sollen. Schon längst hättest du dich entschuldigen sollen.»
«So, entschuldigen? Wofür denn bitte und bei wem?»
«Beim Sanitär Honegger in Dübendorf.»
«Bei wem bitte?»
«Beim Honegger, Sanitär und Heizung in Dübendorf. Sag nur ja nicht, dass du den nicht kennst. Aber ich habe es für dich getan.»
«Doch, ich hatte vor zwei Jahren mit dem zu tun. Was hast du denn für mich getan.»
«Ich habe mich bei ihm entschuldigt für dein unverschämtes Verhalten.»
«Wofür bitte?»
«Für dein unverschämtes Verhalten. Einfach dem eine reinhauen, ohne Rücksicht auf Verluste und Beschädigung des Ansehens deiner Familie.»
«Halt mal still und ganz von Anfang an: Woher kennst denn du den Honegger?»
«Er repariert bei mir unsere Heizung und hat mich gefragt, ob ich mit dem hinterhältigen Lehrer M. verwandt sei. Mit diesem Lausbuben von Lehrer!»
«Hat er das so gesagt?«
«Lausbube nicht.»
«Aber hinterhältig hat er mich genannt?»
«Das mit dem hinterhältigen Lehrer auch nicht, glaube ich, aber er hat sich bitter über dich beklagt.»
«Aha, ja dann kann ich mir vorstellen warum, aber weisst du Papa, ich rede selber mal in aller Ruhe mit Herrn Honegger, und wenn es denn nötig sein sollte, dann entschuldige ich mich. Das musst du sicher nicht für mich tun.»

«Herr Honegger, Sie können sich vielleicht denken, weshalb ich anrufe.»
«Kann ich mir, wird ja auch Zeit!»
«Gerade so?»
«Ja, gerade so.»
«Von den genauen Umständen weiss ich nichts, aber mein Vater hat mich angerufen und mir gesagt, ich hätte Ihnen grossen Ärger eingebrockt. Es kann nur um Aleksander Danič gehen.»
«Dem kann man genau so sagen. Ärger ist sogar noch etwas untertrieben. Ein Riesenproblem haben Sie mir eingebrockt. Obwohl ich Ihnen gesagt habe, dass ich keine –itschs- mehr einstelle. Vorurteile seien das, haben Sie gesagt, einfach Vorurteile.»
«Nicht ganz genau so habe ich das gesagt, aber macht er Probleme, der Alexander?»
«Machte, zum Glück – machte. Und Sie meinten, es seien Vorurteile. Erfahrungen sind das, keine Vorurteile, und bestätigt haben sich diese Erfahrungen mit dem Danič, dem lieben Aleksander Danič.»
«Wie kommt das. Ich habe das nicht voraussehen können.»
«Klar haben Sie das voraussehen können, Sie gehören doch zu den Lehrern, die die Schüler einfach irgendwo platziert haben wollen. Und dann kümmern sie sich nicht mehr, reiben sich die Hände und stehen gut da: Alle meine Schüler haben eine Lehrstelle! Das kann man dann rumplaudern. Ist ja egal, wie es denen geht, oder eben den Lehrmeistern. Das ist dann diesen Lehrern vollkommen egal.»
«So ist es nicht, gewiss nicht. So rede ich eh nicht in der Gegend herum, aber sie haben in einem Punkt recht.»
«Aha, der Herr Lehrer gibt mir recht.»
«Ach nein, so müssen Sie das aber nicht verstehen. Ich bin doch sehr schnell wieder mit neuen Schülern beschäftigt und tatsächlich froh, wenn alles rund läuft mit den anderen, die aus der Schule sind und eine Lehrstelle gefunden haben.»
«Und um die könnten Sie sich doch noch kümmern, zumindest mal nachfragen, wie es geht.»
«Da erwarten Sie einfach zu viel vom Lehrer. Das wäre übertrieben, so könnte man sich kaum je auf die aktuellen Schulprobleme konzentrieren. Die ausgetretenen Schüler sind immerhin bis zu vier Jahren in einer Lehre, und da können Widrigkeiten auch nach langer Zeit auftreten, nachdem die Schüler schon eine enorme Veränderung durchgemacht haben. Es kann doch nicht sein, dass man eine nie endende Betreuungsaufgabe zu übernehmen hat. Ich bin nicht der Vater meiner Schüler.»
„Kann ja sein, aber mal nachfragen hätten Sie doch können. Sie haben ja gewusst, dass ich skeptisch war.»
«Ja, das stimmt, das habe ich gewussst, und jetzt gestehe ich Ihnen ganz ehrlich, dass ich mich gefürchtet habe vor dem, was Sie mir wohl berichten werden. Denn wissen Sie, niemals wollte ich Ihnen ein Kuckucksei unterjubeln, niemals. Ich war völlig überzeugt von Aleksander und habe an ihn geglaubt. Anfänglich zumindest und wissen Sie, so einen Schüler habe ich schlicht noch nie gehabt, noch gar nie, und dass es völlig unwirklich sein muss, oder sein könnte, wurde mir viel zu spät klar. Da hatte er den Lehrvertrag schon, da hatte ich bereits mit Ihnen telefoniert, um mich für Aleksander zu verwenden. Da hatte er mich längst um den Finger gewickelt, während Wochen, während Monaten, und wer kann das schon über eine so lange Zeit. Wer kann das schon? So habe ich dann gedacht, das müsse einfach ein besonderer junger Mann sein. Das habe ich geglaubt, und als sich dann Zweifel meldeten, war es zu spät, einfach zu spät, und da hatte ich auch den Mut nicht mehr. Das Risiko, mich noch einmal zu irren und einem jungen Menschen die Zukunft zu vermasseln, das war doch sehr gross, wenn ich Sie kontaktiert hätte. Und ausserdem komme ich nicht ganz darum herum, mich zu schämen, dafür, dass ich mich derart habe täuschen lassen.»
«Hm …»
«Sind Sie noch am Apparat, Herr Honegger?»
«Bin ich …»
«Wissen Sie, es würde mich schon interessieren, was vorgefallen ist. Ich würde es gerne hören, verstehe es aber, wenn Sie nicht darüber reden möchten.»
« … Es ging nicht lange gut, vielleicht zwei Wochen alles bestens, dann kam er immer öfter zu spät, genau wie ich es erwartet habe. Und eingesetzt hat er sich auch nicht mehr, war faul und frech. Dem Vorarbeiter, dem Battaglia, ist er auch sehr frech gekommen, hat nicht auf ihn gehört und gemacht, was er wollte. Ich habe im dann halt jeweils Stress gemacht und dann hat er rumgemault und mit dem Vater gedroht. Damit aber nicht genug. Eines Tages war der Materialtransporter, der Ford Brückenwagen zerbeult, eines Morgens stand der einfach zerbeult auf dem Werkplatz. Natürlich wollte das niemand gewesen sein, und ich habe daraufhin Anzeige erstattet. Die haben dann sehr rasch herausgefunden, dass der liebe Aleksander damit herumgefahren ist. Der hatte ja nicht mal einen Lernfahrausweis, ist sonst nie mit dem Auto gefahren. Vielleicht ist auch der Herr Papa damit herumgekurvt, ich weiss es nicht, ist ja auch egal. Jedenfalls habe ich den Lehrvertrag aufgelöst.  Es passte noch in die Probezeit, gerade noch rechtzeitig, und dann hatte ich Stress mit der Sippe. Der Vater kam angerauscht mit Cousin und Onkel oder weiss der Teufel, wer die alle waren. Einer war besonders frech, der Cousin oder so. Hat mich beschimpft: „Ufpasse du! Musch ufpasse du, was machsch du?“ So in der Art. Ich habe denen dann mit der Polizei gedroht, und das hat schon gewirkt. Die sind dann abgezottelt, fluchend und zeternd. Sie würden wiederkommen, haben sie gedroht. Das sind sie dann aber nicht, und den lieben Aleksander war ich los, bin ich los, und nun endgültig: nie mehr einen –itsch-!»
«Mir tut das echt leid. Wirklich, echt leid tut mir das, dass es so gekommen ist. Das wollte ich niemals, und da war nie Absicht dahinter.»
« … Der hat Sie offenbar wahnsinnig getäuscht … auch eine Leistung! Schon gut, mich ja auch … am Anfang, mich auch.»

Nachtrag I:
Auf die einhundert Franken warte ich noch heute. Also, ich warte nicht, längst nicht mehr. Das ginge eigentlich steuerrechtlich unter Berufsauslagen und könnte unter der Rubrik «Weiterbildungskosten» in Abzug gebracht werden.

Nachtrag II:
Unter dem originellen Titel «Wo bleiben die Shaqiris der Arbeitswelt» veröffentlichte letzte Woche die Neue Zürcher Zeitung einen Artikel über die Schweizer Berufsmeisterschaften. Da dominieren die einheimischen Jugendlichen, während solche mit Migrationshintergrund kaum in Erscheinung treten. Allerdings würden diese aufholen. «Heizungsmonteur» ist einer der wenigen Berufe, bei denen Secondos vorne mitmischen. Mit Aleksander Danič wurde ein Mann mit serbischen Wurzeln 2006 Schweizer Meister bei den Heizungsfachleuten. Heute ist er als Experte für den Verband der Sanitär- und Heizungsinstallateure tätig.
Wie bitte?
Es muss sich wohl um einen Namensvetter handeln. Klar, das muss so sein, das ist andersherum gar nicht möglich.
Ist es aber doch, wenn man das Foto neben dem Text anschaut! Etwas älter ist er geworden, der Aleksander.