Meinen Vater konnte man nicht gerade als einen rationalen Menschen bezeichnen. Er war ein herzensguter Mann mit vielen Krummheiten und immer mal wieder mit kuriosen Ideen, die man als Schnapsideen bezeichnen konnte. So wünschte er sich nichts sehnlicher als einen tollen Hahn, so einen mit rotgoldenen Deckfedern und einem smaragdgrünen Hals. Aber was um Himmels willen sollten wir denn mit einem Hahn? Mein Vater war Beamter und wir führten einen bürgerlichen Haushalt in einem Dorf. Durchaus in einem Bauerndorf zwar, aber da waren andere, die mit Federvieh, Kühen, Schafen und Pferden umzugehen wussten. Also verkniff sich mein Vater den dringenden Wunsch, aber er schob und hob ihn nur auf – bis zur Pensionierung.
An jenem Abend dieses für jedermann denkwürdigen Tages kam er aufgeregt nach Hause und suchte mich in meinem Zimmer. «Du, komm schnell, ich habe einen Hahn im Auto», keuchte er atemlos, weil es immerhin zwei Treppen zu steigen gab bis zu meinem Zimmer. Die war er in offensichtlicher Aufregung hinaufgerannt. «Erzähl doch keinen Quatsch, Paps», gab ich zur Antwort, «herzliche Gratulation zur Pensionierung und nun hör auf, mich zu veräppeln.» – »So hör doch, glaub mir, ich habe einen Hahn im Kofferraum, den haben mir meine Kollegen zum Abschied geschenkt.«
Tatsächlich: Drinnen im Kofferraum war eine Kiste, deren Deckel weitgehend aus einem straffen Maschendraht bestand. Und in dieser Kiste steckte ein verschrecktes Ding von einen Gockel. Es war ein Riese mit einem dunkelgelben Schnabel, den er geöffnet hielt und einen fürchterlich aufgeregten Eindruck machte – genau wie mein Vater. Und nun stellte mir dieser jene Frage, die er immer stellte, wenn es galt, sich etwas Vernünftiges einfallen zu lassen, wenn seine kuriosen Einfälle unumkehrbare Tatsachen schafften: «Was würdest du jetzt machen?»
Ich dachte an Fritz Vollenweider, einen ehemaligen Klassenkameraden. Er war ein Bauernsohn, und die ganze Familie hatte ein gutes Herz. So war ich mal bei ihnen, als seine Tante eine alte Kuh von Hand mit feinstem Heu fütterte. Das gute Tier durfte seinen Lebensabend bei der Familie im Stall verbringen. Es war einmal eine herausragende Milchlieferantin und verdiente es nach der Meinung der Bauersleute nicht, verwurstet zu werden. Gleich daneben, im gleichen Stall stand ein uralter Ackergaul, der nur noch einen leeren Wagen ziehen musste, mit dem der Vater von Fritz aufs Feld fuhr, weil er nicht mehr so gut zu Fuss war. Traktoren mochte er nicht. Nie hatte er Eile, und wenn der Gaul eine Pause brauchte, so durfte er sie sich gönnen. Er machte so viele Pausen auf dem Hin- und Heimweg, wie es seinem Kopf und seinen alten Gebeinen bekam. Nie kam es dem Vater Vollenweider in den Sinn, den Gaul anzutreiben.
Diese liebenswürdigen Leute fragte ich nun an, ob sie den Hahn nicht vorübergehend im Hühnerhof beherbergen könnten, bis wir eine Lösung gefunden hätten, denn in der Kiste drin konnten wir das arme Tier doch nicht aufbewahren. Ein Meerschweinchen war das ja schliesslich nicht.
Genau so, wie ich es erwartet hatte, durfte ich den Hahn alleine hinbringen zu den Vollenweiders. Mein Vater musste in der Zwischenzeit zu Hause nach dem Rechten sehen und in der Küche der Mutter mit völlig unnötigen Ratschlägen beistehen. Sie war am Zubereiten des zum Tage passenden Abendessens.
Zusammen mit der Tante von Fritz beförderten wir den Hahn in den Hühnerhof. Das war aber kein Zuschauen, wie die eierlegenden Weiber auf den schönen Kerl losgingen. Sie hackten nach ihm, pickten sich in seinem Kehllappen fest und rissen daran, dass es eine Art hatte. Fast hätte ich den armen Teufel wieder eingepackt, aber in der Kiste drin war ja schliesslich auch kein besseres Dasein.
Beim Nachtessen verhandelten wir alle das Schicksal des drangsalierten Federviehs und fanden eine Lösungsmöglichkeit, die der Vater gleich nach dem Essen auslotete. Er telefonierte mit Frau Feuz. Das ist eine Bergbäuerin zuhinterst im Lauterbrunnental, im letzten ganzjährig bewohnten Weiler Sichellauenen. Die Feuz’ waren damals noch das letzte Bergbauernpaar, das dort wohnte, und die Frau freute sich tatsächlich über den Zuwachs im Hühnerhof, der sich ankündigte.
Mein Vater fuhr anderntags gleich los mit seinem farbenprächtigen Präsent. In Stechelberg wurde die Kiste auf einen Brückenwagen verladen und dann ging’s mit einem knatternden Einachser einen steilen Weg hoch zum Weiler. Hier nahm die Bauersfrau den Hahn aus seinem Gefängnis, verschwand kurz mit ihm in der Tenne und wuchtete ihn dann über den hohen Zaun in den Hühnerhof. Flatternd landete er mitten drin zwischen all den fremden Hennen, die kurz auseinanderstoben.

Nichts, aber auch gar nichts Aussergewöhnliches passiert! Die Hennen scharren friedlich im Gras und picken hastig in den krümeligen Boden. Keine einzige zerrt am Kamm des Fremden, keine hackt nach den blutroten Kehllappen und der Hahn kratzt den Boden auf, als ob dies das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, als ob er das hier oben im Berner Oberland schon immer getan hätte. Wie das? Sind die Berner Hühner einfach friedlicher als ihre Zürcher Artgenossinnen? Oder sehen die Oberländer Hennen, die braunen und die weissen, einfach schlecht? Sehen die denn nicht, dass da ein knallbunter, fremder Riesenvogel bei ihnen eingezogen ist und ihnen die Würmer wegfrisst, herumstolziert und für sich ein Revier als das seine reklamiert, das doch ihnen gehört?
Vermutlich nehmen sie das schon wahr, aber das bringt sie nicht aus der Fassung. Warum denn nicht?
Frau Feuz hat die ganze Bande mit Schnaps bespritzt. Nun könnte man argumentieren, dass das arme Federvieh vom verdunsteten Alkohol etwas beduselt und nicht ganz bei Trost sei. Das wäre dann eine punktgenaue Landung, aber präzise daneben. Wer gleich riecht, duftet, muffelt oder stinkt, der gehört dazu – ohne Wenn und Aber.
Das weiss die Bergbäuerin, Frau Feuz im hintersten Lauterbrunnental.