Vor mir geht ein junger Mann über die Traminsel und den Fussgängerstreifen. Keine auffällige Figur, ganz Durchschnitt. Er klopft auf seine Hosentaschen, auf die Hosentasche links, auf die Hosentasche rechts und auf die Jacketttaschen. Er sucht etwas. Wie er sich darauf nach dem Fussgängerstreifen nach links wendet und auf den Kiosk  zugeht, da kann ich sehen, dass er eine Zigarette im Mund hat. Sie brennt nicht. Es fehlen ihm offensichtlich Streichhölzer. Solche will er sich wohl kaufen. Das tut er aber nicht. Er langt kurzerhand in die Kioskauslage, nimmt ein knallrotes Feuerzeug in die Hand, zündet sich die Zigarette an, legt das Ding zurück und geht weiter – ganz ohne irgendwelche Aufregung, ganz cool.
«Gaht’s na, me chönt doch au fröge, da‘sch doch e Frächheit, das», wettert die Kioskfrau laut hinterher und wandet sich mir zu, «me nimmt doch nöd eifach, wänn da jede wett eifach inelange, wo chämed mer dänn da hi?»
«Sie händ ja scho rächt, kei Aschtand me hüt, ich möcht gärn V6 Chaugummi, vo de blaue».
Die Kioskfrau grummelt noch eine ganze Weile vor sich hin und findet sogar eine dankbare Zuhörerin, die neben dem Kiosk gestanden hat und nichts weiter tut, als ein bisschen schauen. Sie geht zur Aufgebrachten hin, um sich auch ein bisschen aufzuregen und über die schlechte Welt zu lamentieren.
Das habe ich vom Tram aus noch sehen können, als ich damit weggefahren bin.

Ich vergass die Begebenheit daraufhin. Die Erinnerung daran hatte ich erst einige Wochen später über tausend Kilometer weit entfernt, tief im Süden, im Stiefelabsatz von Italien, in Apulien. Dahin reiste ich mit viel Material im Auto und blieb sechs Wochen. Während dieser Zeit tat ich nichts anderes, als Olivenbäume zeichnen. So richtig uralte, krumme, knorrige, verdrehte, gewundene, von der Hitze niedergedrückte und solche, die sich wieder stolz aufgerichtet hatten, jene, die in grosser Tiefe mit ihren Wurzeln Wasser aufnehmen, jene, die aus einem jahrhunderte-, vielleicht sogar auch aus einem jahrtausendealten Leben erzählen könnten, diese wollte ich finden. So fuhr ich stundenlang mit dem Auto durch die Gegend. Ich fand sie bald, diese Methusalems, die etwa gar kein einsames Dasein haben. In einem greisen Olivenstamm lebt allerhand Getier. Die grössten unter ihnen sind Geckos und Eidechsen, ganz gewiss äusserst friedliche Wesen – unsereins gegenüber wenigstens. Untereinander haben die ständig irgendwelche Querelen. Die kleinsten Baumbewohner sind indessen sehr selten angenehme Gesellen. Die können fliegen, sirren, zwicken, stechen und beissen.

In einem Negozio wollte ich mir eines Tages ein Microfasertuch kaufen, damit ich durch meine Brille immer eine klare Sicht auf die Bäume hätte. Die Verkäuferin fand kein passendes Tuch, pries mir aber wortgewaltig ein Päckchen mit Reinigungstüchlein an, die sich eh besser eignen würden, eine Brille blitzblank zu polieren. Also liess ich mich überreden und kaufte das Pack. Ich tat es auch etwas aus Mitleid, denn der Negozio wirkte auf mich doch ziemlich heruntergekommen, und ich stellte mir vor, dass die Verkäuferin auch nicht gerade auf Rosen gebettet war.
In meiner Unterkunft, einem Monolocale in Pulsano al Mare, freute ich mich, auf eine tadellos saubere Brille und machte mich an die wichtige Arbeit. Angebrochen war es aber, das kleine Pack, und wieder sorgfältig verschlossen. Ein Briefchen mit einem feuchten Tuch fehlte! Es waren nur deren neun drin und nicht zehn wie es auf der Schachtel stand. Und jetzt ärgerte ich mich masslos und schimpfte auf die unverschämte Verkäuferin, fühlte mich veräppelt von der dreisten Ziege. Zurückbringen wollte ich das kleine Pack nicht, es war ja nicht sehr teuer, und für ein Donnerwetter mit der Ragazza war mein Wortschatz zu limitiert. Beweisen konnte ich auch nichts. Und Mitleid mit ihr hatte ich gleichwohl immer noch ein klein bisschen.

Drei, vier Tage danach wurde es sehr heiss südlich von Taranto. Es war nun anfangs Juni, und ich fuhr nach der Sitzung bei und mit einem Olivenbaum ans Meer, um mich abzukühlen. Die Badesachen hatte ich immer mit. Die paar Schwimmzüge im glasklaren Wasser taten gut. Ich liess mich hinterher von der Abendsonne trocknen und schaute mir die Leute an, die um mich herum sich dem Nichtstun hingaben.
Da beginnt einer meiner Nachbarn, ein braungebrannter Ragazzo, unruhig zu werden, steckt sich eine Zigarette in den Mund, guckt in die Schuhe, guckt unter seine Lektüre, guckt unter das obere Ende des Strandtuches, wühlt in seiner Sporttasche. Schliesslich steht er auf, tippelt wie ein aufgeregter Wattvogel durch den heissen Sand auf den kleinen Kiosk zu, langt durch das Fenster hinein, greift sich ein knallrotes Feuerzeug, zündet sich seine Zigarette an, legt das Ding zurück, hüpft wieder an seinen Platz und pafft genüsslich. Der Kioskmann hockt neben seiner Auslage auf einem Plastikstuhl, der einmal weiss war. Er schaut kurz hin und macht weiter keinen Mucks.
Es ist sehr warm, und nichts Bedeutendes ist passiert.

Ich denke an die Kioskfrau in Zürich, an die Verkäuferin im Negozio, an das gemopste Brillentüchlein und auch an den Begriff der «Toleranz». Ach was Toleranz! So ein abgegriffenes Wort! Entgegenkommen, Nachsicht, Duldsamkeit und vielleicht Grossmut ist schöner. «Grossmut», wunderschön, das adelt einen. Ich schliesse meine Augen und träume grossmütig ein wenig dem Wort nach.
Es ist sehr warm, und nichts Bedeutendes ist passiert.