Irgendwo in meinem Durcheinander im Büro findet sich ein Ordner. Da drin stehen lediglich einzelne Sätze, also Aphorismen, die als geistreich gelten. Die habe ich selber mal geschrieben, und auf einen bin ich sehr stolz – oder besser: w a r ich sehr stolz.
Dabei ist es gar nicht so schwierig, Aphorismen zu schreiben. Man braucht einen bequemen Stuhl, einen ausgeschlafenen Kopf und absolute Ruhe. Dann denkt man schlicht ein bisschen nach, und schon kommen einem die Weisheiten zugeflogen, fast so einfach wie ein Hexenschuss. Demzufolge ist es ja auch ein bisschen ungebührlich, wegen eines einzigen Satzes schon Stolz in der Brust zu fühlen.
Nun zurück zum besagten Satz: Er ist eine verdichtete, und ganz gewiss auch raffinierte Fortsetzung des Titels, die so lautet: …muss alles glauben. Also: Wer nichts weiss, muss alles glauben.
Schon toll, diese Aussage! Sie komprimiert gesellschaftliche Gegebenheiten auf nur sechs Wörter, die ohne jede weitere Erklärung auskommen.
Als Schöpfer dieser Weisheit war ich etwa 30 Jahre lang stolz!
Es war im Dezember vor wenigen Jahren. Da streikten die Zürcher Lehrer gegen den Bildungsabbau durch die Erziehungsdirektion auf Kosten des Werkunterrichtes. Männiglich hatte die Nase voll von dieser Institution, die mit einer Kadenz von gut einem halben Jahr die Schule reformiert, restauriert, umstrukturiert, verbessert, mit immer neuen Kompetenzen beauftragt und verziert. Es brachten die Herren Reformpädagogen schon mal ein höchst kreatives Wort wie «Kompetenzerkennungskompetenz» zustande. Das ist eine so grauenhaft abstossende Wortschöpfung, dass mir gleich ein Aphorismus dazu einfällt: «In der Vielfalt der menschlichen Einfalt liegt das Wesen unserer Welt begründet.»
Gestreikt hatten die Zürcher Lehrer also gegen die Bildungsdirektion, und wenn Lehrer streiken, dann geht das gesittet zu. Wir trafen uns hinter dem Bahnhof beim Landesmuseum. Alle trugen ein brennendes Teelicht mit sich herum, alle hörten andächtig den Protestrednern zu, alle nickten zustimmend, wenn sie etwas Kluges mitkriegten, alle froren und alle hatten sie irgendwie das dumpfe Gefühl, da in eine peinliche Veranstaltung geraten zu sein.
Von einem Lautsprecherwagen wurden per Mikrophon Weisheiten vorgetragen, die Lehrer kreiert hätten – angeblich. Dabei wurden auch Aphorismen verlesen und die Autoren genannt. Unter anderem verkündete der Sprecher über das Mikrophon: «Wer nichts weiss, muss alles glauben! Dr. Erich Brunner, Biologielehrer, Kantonsschule Wetzikon.»
Mir knickten beinahe die Beine ein. Wo um Himmels willen hatte der Brunner nur meinen Satz abgekupfert? Veröffentlich hatte ich den jedenfalls nie. Er führte einen Dornröschenschlaf in einem Ordner drin. Den Biologielehrer kannte und kenne ich nicht. Und dann versank ich in ein unglaubliches Staunen. Staunen darüber, dass es offenbar auf der Welt so viele Menschen gibt, dass alle Gedanken womöglich mehrfach gedacht werden und gedacht worden sind. Das wäre doch möglich, jedenfalls nicht ganz unwahrscheinlich. Es lässt sich leicht denken, dass ich die Begebenheit bald darauf vergass.
Späterhin konnte ich eines Nachts nicht schlafen und machte Licht im Zimmer. Auf dem Nachttischchen habe ich manchmal die Reclamausgabe »Deutsche Aphorismen« liegen, ein kleines gelbes Büchlein, das schon arg zerfleddert ist, sodass immer wieder Buchseiten zu Boden und unter das Bett flattern, die ich anderntags mühsam wieder zusammen mit Staubbällchen hervorholen muss. Auf den Seitenresten, die mir noch blieben, las ich andächtig und kam von Karl Kraus über Christian Morgenstern, Elias Canetti und Stefan Zweig auch zu Marie von Ebner-Eschenbach – und da stand schwarz auf weiss: «Wer nichts weiss, muss alles glauben!»
Sogleich war ich hellwach und schmunzelte in mich hinein. Der Leser frage nun bitte nicht, wie das geht, ich machte das einfach: Ich schmunzelte tatsächlich in mich hinein, löschte das Licht, drehte mich zur Seite und dachte, dass ich schon ein ausgemachter Trottel sei! Da mutmasste ich in den Dimensionen der Wahrscheinlichkeit, überlegte, ob vielleicht in China die Art des Denkens mit der des Abendlandes identisch sei …
Dabei ist alles schnörkellos einfach: Die Weisheit stammt sicher nicht von mir. Die habe ich gelesen und vergessen, dass ich sie gelesen habe. Sie ist schon vor rund 200 Jahren gedacht worden – und dann erst noch von einer Frau!
Ob der Biologielehrer Dr. Erich Brunner immer noch an seine Urheberrechte am Sinnspruch glaubt, das weiss ich nicht. Sehr viel tut das hier auch nicht zur Sache – oder etwa doch?