Es ist Pause im Schulhaus. Man kann das sehen und hören. Lärm machen die Schüler nicht, obwohl sie auf dem Pausenplatz laut sind. Es ist wie akustisches Schneegestöber, heiter und schwerelos. Eine Gruppe etwa 15-jähriger Jungen und Mädchen stehen zusammen und albern herum. Das Interesse der Einzelnen gilt jeweils dem anderen Geschlecht. Alle machen Witze, oder so was Ähnliches, was schwer wiederzugeben ist, weil es völlig zusammenhanglos eingeworfen wird und wenig geistreich ist. Es soll ja nur das Gegenüber etwas provozieren und da reicht harmloses, etwas dümmliches Gerede. Es ist halt nicht allen gegeben schlagfertig zu sein. Gleichwohl sind alle konzentriert bei der Sache. Sie wollen es nicht verpassen, auch etwas dazwischenzurufen, damit sie wahrgenommen werden. Dass aber alle den Kopf bei der gewichtigen Sache hätten, stimmt nicht ganz. Der dicke Marco schielt immer nach der Schulhaustüre: Lehrer Ritter ist noch nicht in die Pause gekommen und ins Lehrerzimmer im anderen Trakt gegangen. Und auf ihn, auf den Lehrer Konrad Ritter, wartet Marco.
Als Ritter doch noch aus der Schulhaustüre kommt und in Richtung des Lehrerzimmers eilt, da rennt Marco los.
«Herr Ritter, Herr Ritter, warten Sie!»
Marco ist so schwer, dass er gewaltig schnaufen muss, als er bei Ritter ankommt. Er greift in die Hosentasche nach einem kleinen braunen Fläschchen und streckt es dem Lehrer verstohlen hin. Der lässt es unauffällig in die Jacketttasche gleiten.
«Ich gebe Ihnen das zurück. Ich brauche das jetzt nicht mehr.«»
«Prima Marco, das freut mich aber. Wie lange brauchst du es denn nicht mehr?
«Schon seit wir aus dem Klassenlager zurück sind. Ich brauch’s nicht mehr. Es ist vorbei.»
«Aha, prima. Das bleibt alles unter uns – abgemacht?»
«Klar doch.»
Ritter geht ins Lehrerzimmer und macht sich mit der Maschine einen Kaffee. Weil er so spät kommt, muss er nun nicht anstehen und sich immer die gleichen Witzchen über das Schlangenstehen anhören. Im Spassmachen ist nämlich auch nur der Keller kreativ. Bei den anderen wirken die Witze jeweils etwas gequält und nicht lachen oder nicht belustigt tun, wird schnell mal als Überheblichkeit ausgelegt.
Neben Mariana hat es am runden Tisch noch Platz. Das freut Ritter, denn er mag diese Kollegin. Sie ist zwar in der Regel immer ein bisschen neugierig, aber eine sehr begabte Lehrerin, die auch jene Schüler motivieren kann, die an sich mit dem Lernen wenig bis gar nichts am Hut haben. Aber das ist es an sich nicht, was sie sympathisch macht, denn Sympathie muss sich ja nicht rational begründen lassen, Sympathie ist schlicht parteiisch und nie gerecht.
«Sali Koni, du kommst aber spät in die Pause, hast ja kaum mehr Zeit, deinen Kaffee zu trinken.»
«Das geht schon, weisst, ich habe eh eine Zwischenstunde, muss noch einiges kopieren. Yvette macht wieder Probleme. Ich musste noch mit ihr reden. Sie hat’s nicht leicht. Den anderen ist es verleidet, auf sie Rücksicht zu nehmen und ihr mit dem Rollstuhl zu helfen.»
«Schon nicht einfach, eine Spastikerin in die Klasse zu integrieren. Da warst du vielleicht etwas zu gutmütig, als du zu dem Versuch deine Zustimmung gegeben hast.»
«Vielleicht, aber es ist schlimmer geworden, seit die Mitschüler gemerkt haben, dass Yvette wesentlich klüger ist als alle anderen in der Klasse.»
«Was hast du denn da in der Hand?»
Ritter in die Jacketttasche gegriffen und da drinnen mit dem kleinen braunen Fläschchen gespielt. Gedankenverloren hat er es herausgenommen und dann in der Hand gedreht.
«Ach, Mariana, das ist nur ein kleines Fläschchen, noch halbvoll mit Globuli.»
«Was du, Koni! Was hast du denn mit Homöopathie am Hut! Hätte nicht gedacht, dass du an so was glaubst. Irgendwie passt das doch gar nicht zu dir. Du überraschst mich jetzt aber.»
Rasch lässt Ritter die Globuli wieder in der Jacketttasche verschwinden und wirkt etwas verlegen, vielleicht auch ein bisschen verstört, denn Mariana ist ihm nicht gerade durch Verschwiegenheit bekannt.
«Mach bitte keinen Aufstand, Mariana. Sei nicht so laut. Brauchen ja nicht alle zu wissen, was ich da habe. Ich erzähl’s dir dann mal. Selbstverständlich habe ich mit Homöopathie nichts am Hut, aber nützen tun sie schon, wenn man sie richtig anwendet.»
«Was heisst denn: Ich erzähl’s dir mal und nichts am Hut haben und nützen tun sie schon? Kannst es mir ja kurz erzählen. Es wir schon bei mir bleiben, ich versprech’s dir auch, dass ich es nicht weitererzähle.»
«Kurz erzählen geht nicht, ich muss da schon etwas ausholen und jetzt läutet’s gleich. Du musst doch ins Klassenzimmer zurück.»
«Muss ich nicht. Ich habe eine Zwischenstunde genau wie du. Hast es doch eben gesagt.»
Die Pausenglocke läutet und es entsteht eine gewisse Hektik. Die Kollegen und Kolleginnen drängen mit ihren Kaffeetassen zum Geschirrspüler. Die einen spülen die Tassen, andere stellen sie einfach auf den Geschirrträger. Ist doch egal, wenn die Maschine innen kaffeeverschmiert ist. Das wird ja sowieso weggespült. Es gibt aber auch noch jene, die ihre Tassen einfach auf den Korpus stellen. Irgendeine gute Seele wird sich ihrer dann schon annehmen. Muss ja sein, weil am Morgen immer peinlich Ordnung ist. Und dann eilen alle zur Glastüre hinaus. Koni und Mariana sind sitzen geblieben. Konrad Ritter schaut etwas seitwärts zu Boden und Mariana mustert ihn leicht belustigt, weil sie genau weiss, dass ihr Kollege nun mit sich ringt.
«Also Mariana. Ich erzähl’s dir. Hol uns beiden noch einen Kaffee, und dann setzen wir uns nach hinten in das Nebenräumchen mit den Lehnstühlen.»
Koni Ritter geht in den hinteren Raum, der durch eine grosse Glaswand vom Lehrerzimmer abgetrennt ist. Da hinten stehen ein paar Lehnstühle, in denen es sich ganz entspannt nachdenken lässt. Meistens allerdings wird da lediglich gemütlich geplaudert.
Mariana kommt mit zwei Kaffeetassen daher, die sie vorsichtig trägt, damit nichts verschüttet. Sie stellt die eine Tasse vor Koni Ritter und setzt sich ihm gegenüber, schaut ihn interessiert an.
«Also Koni, was soll nun das mit den Globuli und mit deinem rationalen Geist, den du immer mal wieder während unserer Diskussionen am Konvent an den Tag legst?»
«Da muss ich etwas vorausschicken, sonst ist der Zusammenhang nicht klar. Weisst du, unsere kleine Sabrina, die wollte einfach nicht trocken werden. Das heisst, für die Nacht mussten wir sie windeln. Mit vier Jahren wandten wir uns dann an den Kinderarzt. Der hat natürlich zu Geduld gemahnt und gemeint, wir sollen im Kindergarten wieder kommen, falls das Problem nicht aufhöre. Ein Problem war das ja an sich für uns nicht. So ein Pack Windeln zu kaufen, machte uns wenig Sorgen. Sorgen machte sich aber Sabrina selber, und wenn sie bei einer Freundin schlafen wollte, dann mussten wir immer deren Mutter einweihen, die in einem unbeobachteten Augenblick der Sabrina eine Windel anzog. Und umgekehrt bei uns musste Erika unter der Decke unsere Kleine wickeln. Die hat sich natürlich nie wohl und völlig frei gefühlt. Als es im Kindergarten immer noch nicht vorbei war, ging Erika erneut zum Kinderarzt – und wiederum vertröstete er uns. Wir sollten dem Mädchen noch Zeit geben, bis es in die 1. Klasse komme.
Auch zu der Zeit war die leide Sache noch nicht vorbei, darauf aber hat der Kinderarzt gehandelt. Er gab uns Primocit mit nach Hause. Primocit ist ein sehr bekanntes Antidepressivum, das nach Auskunft des Arztes in solchen Fällen helfen kann. Und das tat das Medikament denn auch. Noch ein einziges Mal machte Sabrina in die Windeln und nach fünf Tagen war der Spuk für immer vorbei. Erika und ich haben uns gehütet, das herumzuerzählen. Wir fürchteten die Vorwürfe der Überkorrekten. Kannst es dir ja denken. Du kennst sie auch, die Chemieabstinenzler!
Mehr als fünf Tabletten hatten wir nicht gebraucht. Die angebrochene Schachtel bewahrte ich in meinem Schreibtisch auf – für alle Fälle und für ein andermal. Das ist die Vorgeschichte. Die musst du kennen, Mariana, und du siehst: Es geht nicht einfach kurz.
Nun weisst du vielleicht, dass ich mit meiner Klasse und Robert im Klassenlager war. Vor drei Wochen sind wir zusammen zurückgekehrt. Robert Lehnherr hatte mich eingeladen, mit ihm zu kommen, und ich sagte gerne zu. Das ausserschulische Unterrichtsprogramm bereitete ich für alle Schüler vor. Das machte ich gerne. Wir gingen ins Oberwallis, denn da bieten sich ja unzählige Themen an. Abgesehen davon gefällt mir diese Gegend ausserordentlich, und ich kenne mich dort recht gut aus.
Zwei oder drei Wochen vor dem Lager teilte mir Robert mit, dass sein Schüler Marco – weisst du, der kleine Dicke mit den blonden Haaren – dass also Marco auf keinen Fall mitkommen kann. Den Grund nannte er mir nicht. Er kannte ihn auch nicht. Auf alle Fälle würde Marcos Mutter ihren Sohn unterstützen. Sie hatte ihn einfach vom Lager abgemeldet. Dass die Teilnahme obligatorisch ist, machte der Mutter keinen Eindruck. Sie überliess den Entscheid einzig ihrem Sohn. Robert wusste nicht, wie mit der Situation umzugehen sei – und ich auch nicht. Wir liessen es einfach damit bewenden und einigten uns darauf, kein Aufhebens von der Sache zu machen.
Vielleicht eine Woche vor der Abreise arbeitete ich nach dem Unterricht noch im Zimmer an meinem Schreibtisch. Da öffnete sich die Schulzimmertüre einen Spalt breit und Marco streckte den Kopf herein.
«Sie Herr Ritter, darf ich mal reinkommen und mit Ihnen etwas besprechen?«
«Darfst du, Marco. Komm nur her, mach aber die Türe zu.»
«Sie haben doch auch Kinder, Herr Ritter, oder nicht?»
«Das habe ich, einen Jungen und ein Mädchen. Beide sind etwas älter als du.»
«Ja eben, dann verstehen Sie vielleicht mein Problem. Sie haben ja gehört, dass ich nicht ins Klassenlager mitkomme. Ist nicht so einfach, und es plagt mich sehr. Und wenn ich sage warum, sagen Sie es nicht weiter, sagen sie es nicht dem Lehnherr?»
«Tu ich nicht, wenn du das nicht willst. Das kann ich versprechen.»
«Ja … hm … ich bin Bettnässer. Es passiert immer noch fast jede Nacht.»
Da ging mir natürlich die Geschichte meiner Sabrina durch den Kopf. Ich dachte an die Kämpfe, die Sabrina mit sich selber ausmachte, dachte an die vielen Momente, in denen sie zutiefst enttäuscht von sich selber war und in ihrer Wut die volle Pampers-Schachtel mit einem Tritt die Treppe hinunter in den Keller beförderte. Ich dachte daran, dass Sabrina das Problem in der ersten Klasse los wurde, mit etwa sieben Jahren, dachte daran, wie Marco sich fühlen musste mit seinen 15 Jahren und dem Problem. Ob wohl zwischen seiner Neurose und dem kräftigen Übergewicht eine Zusammenhang bestand?
Lange musste ich nicht mit mir ringen, Skrupel hatte ich keine, angesichts der Gewichtigkeit der Sache, wollte ich das wagen, was mir an sich nicht zustand.
Ich sagte ihm: «Das ist doch gar kein Problem. Ich weiss schon, was man da machen kann. Da kannst du trotzdem mitkommen.»
«Wie denn, wie soll das denn gehen?»
«Dagegen gibt es Tabletten. Und ausserdem habe ich den Belegungsplan von unserem Lagerhaus im Saas-Tal. Ich habe zwei Zweierzimmer. In eines von denen darfst du zusammen mit deinem Freund rein. Die Tabletten wirken sicher, und wenn trotzdem was passieren sollte, dann tust du nicht dergleichen und sagst es mir am Morgen. Ich lasse dann das Leintuch verschwinden, wenn ihr unterwegs seid und sorge dafür, dass ein neues auftaucht. Ins Bett kommt eine Gummiunterlage zur Sicherheit. Dafür werde ich sorgen.»
«Meinen Sie, dass das wirklich klappt.»
«Da bin ich mir ganz sicher, dass das klappt. Vor dem Schlafengehen bekommst du von mir die Tabletten. Die holst du dir ab. Das machen wir so, dass das niemandem auffällt.»
«Dann könnte ich ja doch mitkommen ins Klassenlager.»
«Kannst du ohne Weiteres. Sag dem Lehnherr, dass du mitkommst. Sag ihm einfach, du hättest dich nun anders besonnen, und deine Mama sei einverstanden.»
«Oh danke, das sage ich ihm. Danke vielmal Herr Ritter.»
«Musst dich nicht bedanken. Das kommt gut.»
Marco schlich aus dem Zimmer. Er wirkte immer noch unsicher. Robert teilte mir anderntags mit, dass Marco nun doch ins Klassenlager komme, er aber nicht wisse wieso, dass er aber sehr erleichtert sei. Marco hätte doch nicht einfach eine Woche lang zu Hause bleiben können.
Nun, Mariana, wir gingen alle zusammen ins Klassenlager. Marco und ich hatten unser Geheimnis. Das heisst, ich noch eines dazu:
Natürlich hatte ich die Primocit-Tabletten aus meinem Schreibtisch dabei. In einer Apotheke hingegen beschaffte ich mir noch Globuli gegen das Bettnässen. Und dann, jeweils vor dem Zubettgehen, zählte ich Marco am ersten Abend zehn kleine weisse Kügelchen in die Hand und dazu gab ich ihm zwei gelbe Primocit. Ich machte ihm weis, dass die weissen Kügelchen sehr stark wirken und schwer verträglich seien. Damit der Körper mit den weissen Kügelchen fertig werde, müsse er jetzt am ersten Abend zwei grosse gelbe nehmen. Die würden wir dann übermorgen weglassen, wenn der Körper sich an die kleinen Kügelchen gewöhnt hätte.
So machten wir es auch: Am Dienstagabend gab es zu den zehn weissen nur noch ein gelbes Primocit und am Mittwoch dann gar keines mehr.
Marco nässte während der ganzen Woche kein einziges Mal ein. Am Ende der Woche habe ich ihm das Fläschchen mit den homöopathischen Globuli mit nach Hause gegeben und ihn aufgefordert, etwa alle vier Tage eines weniger zu nehmen bis er sie nicht mehr brauche. Und dann könne er mir die restlichen Tabletten einmal zurückgeben.
Das hat er eben vorhin getan, als ich in die Pause kam. Deshalb habe ich sie in der Jacketttasche – nur deshalb, und selber daran glauben tue ich nicht, und trotzdem wirken sie.»