«Die dort hinten. Recht hübsch ist sie. Klar, nicht mehr so jung, aber ich darf ja da auch nichts sagen. Gepflegt ist sie, und doch ganz natürlich. Schon eigenartig, dass sie ständig auf ihr Smartphone guckt. In ihrem Alter ist das eigenartig, zumindest ungewöhnlich. Jetzt schaut sie her zu mir. Rasch wegschauen. Sie hat kaum etwas wahrgenommen, gar nichts vermutlich.
Jetzt hinschauen zu der fülligen Mamma da vor mir mit dem Rucksack. Die bietet etwas Deckung, versperrt mir aber auch die Sicht und dazu den Durchgang durch die Bankreihen. Das merkt sie nicht, bewältigt gerade einen Konflikt mit ihrem pubertären Sohn. Ist ein armer Kerl.
Das dunkle Haar hat sie schön frisiert, und sie beschäftigt sich schon wieder mit ihrem Smartphone. Hat sicher nicht merken können, dass sie mir auffällt.
Jetzt schaut sie aber doch wieder her zu mir. Nur nicht verlegen werden, ganz ruhig bleiben, ganz souverän, das ist jetzt wichtig. Und nicht zurückschauen, vielleicht nachher. Einfach wegschauen mit einer unbeteiligten Miene.
Das habe ich doch in der Zeitung gelesen, dass wir es uns kaum vorstellen können, wie uns das Umfeld mustert, während wir ein Gleiches tun.
Der Sohn ist schon ein armer Kerl, hat offenbar ein Bein kürzer als das andere und die Mama bemuttert ihn natürlich. Ist schon klar, dass er sich wehrt. Ist auch klar, dass sie ihn bemuttert. Das kann man gut nachvollziehen, und das ginge mir wohl auch so, in beiden Rollen.
Aber jetzt schaut sie tatsächlich schon wieder her zu mir. Vielleicht stimmt etwas mit meinen Kleidern nicht. Wenn nur der Hosenschlitz nicht auf ist. Das kommt vor bei mir. Also jetzt prüfe ich dies mal mit dem Mittelfinger, ganz unauffällig. Niemandem fällt auf, was ich da mache, so zufällig mit dem Mittelfinger. Ja und auch mit dem Hemd ist alles soweit in Ordnung. Nicht bekleckert und alle Knöpfe zu? Sind sie, alles zu. Das kann ich spüren, wenn ich die Hand nach oben ziehe, ganz langsam von der Gürtelschnalle aus. Den Bauch ein klein bisschen einziehen. Das macht sich gut.
Ich muss mich gelassen geben und mich ganz entspannt gegen die Kabine des Tramführers lehnen. Er redet etwas mit irgendwem. Verstehen kann man nichts.
Sie schaut wieder her, mir direkt ins Gesicht und wieder weg aufs Smartphone. Irgendwie schaut sie aber auch durch mich hindurch, schon sehr eigenartig.
Ich müsste doch etwas tun, irgendetwas Klärendes wenigstens.
Und jetzt schaut die Dame schon wieder her zu mir. Aber nur recht kurz und ohne Koketterie, ganz cool und dann wieder weg. Tatsächlich: durch mich hindurch.
Und die Mollige mit dem Rucksack steht mir immer noch vor der Aussicht. An ihr müsste ich mich vorbeizwängen, wenn ich mich in die Nähe der Dame setzen wollte. Vielleicht daneben, gegenüber traue ich mich nicht – gleich im selben Abteil! Das wäre schon etwas gewagt. Und wenn sie mich anlächeln würde, dann weiss ich eh nicht, wie ich reagieren sollte.
Echt: Sie schaut schon wieder her zu mir. Ganz selbstverständlich. Diese Selbstsicherheit würde ich auch gerne haben. Jung ist sie effektiv nicht mehr. Sie hat sehr gepflegtes dunkles Haar.
Und ein weiteres Mal schaut sie auf mich. Ich schaue zurück. Jetzt geht das. Jetzt merkt sie es nicht. Sie studiert wiederum ihr Smartphone. Ich könnte mich in ihre Nähe setzen. Nur um zu schauen, was … Aber dann nicht gleich ihr gegenüber? Ich werde doch verlegen, wenn sie mich anlächeln würde, und ausserdem wäre das sehr aufdringlich. Es hat genügend freie Plätze im Tram. Also müsste ich schon in der Bankreihe daneben sitzen. Ich könnte auch dahinter einen Platz finden.
Wieso stehe ich eigentlich? Wollte wohl die Mama mit dem Sohn beobachten. Ich müsste gar nicht stehen. Hinter der Rucksackmama hat es schon Platz, genügend Platz. Aber an ihr müsste ich mich halt vorbeizwängen.
Am Rucksack bin ich locker vorbeigekommen. Hätte ich gar nicht gedacht. Es ist noch eine Sitzbank hinter der Dame frei.
Es ist ein guter Platz hier. Da sitze ich gut und fühle mich sicher. Wenn sie sich nach mir umdreht ist alles klar.
Und wiederum schaut sie, aber geradeaus nach vorn. Genau dort habe ich doch gestanden. Genau dorthin schaut sie.
Ich Idiot, ich lächerlicher alter Knabe, ich eitler Geck, der ich bin!
Und die Dame schaut schon wieder nach vorn zum Führerstand, nach oben etwas über Kopfhöhe auf den Bildschirm mit all den wechselnden Anzeigen der Haltestellen.
Bloss gut, dass meine gleich kommt und ich aussteigen kann.»