Im Studierzimmer des Nobelpreisträgers Konrad Lorenz sass ein zahmer Star auf einem Holzstängelchen. Dort hatte er nichts Weiteres zu tun, als dazusitzen, über die Welt zu sinnieren und vor sich hinzudösen. Ab und zu, ganz unvermittelt, schoss sein Kopf vor. Mit dem Schnabel schnappte das Tier in die Luft und machte allenfalls noch eine Schüttelbewegung. Darauf schluckte der Star leer. Nach diesem eigenartigen Tun schloss er die Augen wieder, ruckelte seinen Kopf tief in die Schulterfedern hinein und dachte weiter über die Welt nach, als ob nichts gewesen wäre.
Lorenz deutete dieses wiederholte Verhalten als Übersprunghandlung, welche dazu diente, Stress abzubauen. Dieser entwickle sich wohl durch den Hunger, den der Star allmählich empfand. Das ist ja auch verständlich, da er so lange angestrengt nachdenken musste. Also tat der Star genau das, was er hätte tun müssen, um seinen Hunger zu stillen: Insekten fangen, totschütteln und fressen. Genau besehen setzte der Star pantomimisch in Handlung um, woran er dachte. Nützen tat es ihm nichts – vielleicht aber konnte er tatsächlich Stress für eine kurze Zeit abbauen. Es ist möglich, dass diese Darstellung eine heute unzulässige Vermenschlichung ist. So allerdings habe ich sie aus meinem Biologieunterricht in Erinnerung.
Mir passierte vermutlich auch einmal eine solche Übersprunghandlung. Allerdings hatte ich dadurch den Stress nicht abgebaut, sondern eine stattliche Menge davon aufgebaut:i
Ich besuchte meine betagte Mutter im Altersheim. Es herrschte garstiges Wetter, und nach dem Besuch, als ich zum Auto auf dem Parkplatz eilte, schienen die Wolken geradezu zu bersten. Es goss wie aus Kübeln, und ein veritabler Bach rauschte über den Parkplatz, um in den Gully genau neben meinem Auto zu stürzen. Aus der Manteltasche nahm ich meinen Schlüsselbund und dachte: «Das wäre ja ein Ding, wenn meine Schlüssel in diesen Bach fielen!» In diesem Augenblick öffnete ich die Hand und liess sie einfach aus den Fingern gleiten, die Schlüssel. Sie platschten ins Wasser, rauschten davon und verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Gully.
So viel Gedankenverlorenheit, so viel Absenz, soviel Tagträumerei, so viel Zerstreutheit – so viel Übersprunghandlung!