Die folgende Geschichte hat mir Stefan Sennhauser erzählt, aber natürlich nur den letzten Abschnitt. Das Geschehen bis dahin habe ich mir ausgedacht. Gewiss: Hier und da habe ich Gegebenheiten hinzugefügt, die einer einigermassen spannenden Erzählung Rechnung tragen sollten. So also dürfte es gewesen sein:

An der Brandbachstrasse 44, dort wo die grossstädtische Hast langsam zur Ruhe kommt, wohnte Otto Moser mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Die Mosers waren eine Zürcher Familie, wie es sie viele gab, und sie fände hier kaum Erwähnung, wenn Herr Moser nicht einem etwas unüblichen Beruf nachgegangen wäre. Er war selbstständig und hatte im Dreifamilienhaus gegenüber der Tramhaltestelle seinen Laden. Das Gebäude hat einen Hinterhof mit einem Zufahrtssträsschen, das gleich unter dem Wohnzimmer hindurchführt und das Haus gewissermassen durchbohrt. Im Hinterhof hatte Moser noch drei weitere Geschäftsräume: kahle, weissgekachelte. Ein Ort des Schreckens für alle Nachbarskinder. Moser war Pferdemetzger.
Durchaus friedfertig im Charakter ging er tagein tagaus seiner Arbeit nach, machte sie in aller Stille und ohne viel Aufhebens und war stets freundlich zu den Angestellten und zu seiner Kundschaft. Er war auch ganz zufrieden mit sich selbst und der Welt. Nur einmal hauchte ihn der Wind des Zweifels etwas an, als vor sehr langer Zeit seine Frau eine wohl eher harmlose Affäre mit einem Mitarbeiter hatte. Man wusste aber nur wenig Genaues darüber in der Nachbarschaft, und danach gab es offenbar keine weiteren Vorkommnisse mehr, die an seinem Weltverständnis rüttelten, und kein Gewürm nagte mehr im Gebälk seines Sittengebäudes.
Da begab es sich, dass am Donnerstag, den 4. September 1952, ein Esel zu Moser in den Laden trat, um mit ihm ins Geschäft zu kommen.

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Schon von weitem hörte Turi ein fröhliches Kinderlachen und Durcheinanderreden, das ihn an das Geschnatter einer Entenschar erinnerte. In freudiger Erwartung trabte er zum Lattenzaun und streckte seinen Kopf auf den Feldweg hinaus. Gleich mussten sie doch um die Biegung kommen. Das taten sie denn auch und alle rannten los, als sie Turi sahen. Jeder wollte zuerst bei ihm sein. Und dann umstanden sie den alten Eselskopf, tätschelten und kraulten ihn. Ein Mädchen suchte nach Konfekt und Bonbons in seinem kleinen Rucksack. Turi genoss das. Er liebte die ungestümen Liebkosungen der aufgeregten Kinderhände, und besonders gerne hatte er es, wenn sie ihn hinter den Ohren kraulten. Er machte den Hals so lang wie möglich und streckte seinen Kopf in die johlende Kinderschar hinein. Es störte ihn wenig, dass eine Holzlatte ihn dabei würgte. Ein besonders wackeres Bürschchen zwickte ihn in die Backe und zupfte an seinen Lippenhaaren. Das behagte Turi nun weniger. Er versuchte den Lausbuben nach Eselsmanier zurechtzuweisen, was heissen wollte, dass er nach ihm schnappte. Nur mit den Lippen, er wollte ihm dabei nicht wehtun und nicht all die anderen Kinder erschrecken. Diese allerdings wichen nun respektvoll zurück, und die Lehrerin, die eben angeschnauft kam, mahnte die Kinder, doch keine fremden Tiere anzufassen, man könne ja nie wissen, und jetzt müssten sie aber weitergehen, da die Zeit schon etwas dränge und das Postauto nicht auf sie warten würde.
Turi blieb alleine zurück. Das unendliche Gefühl der Langeweile beschlich ihn wieder. Er kannte es. Seit Jahr und Tag schon plagte es ihn. Das Gras und all die Kräuter um ihn herum mochten den leiblichen Hunger zu stillen, nicht aber jenen Hunger nach Abwechslung und Betriebsamkeit. »Da haben es doch die Schulkinder besser, die hierher ins Oberland kommen können. Die kommen wenigstens ein bisschen in der Welt herum«, dachte Turi und schaute hinüber zum Bauernhaus, wo Bläss angekettet auf einem Sack lag.
Und es durchzuckte den alten Eselskörper. Turi drehte sich um und zerschmetterte mit seinen Hufen gleich drei Zaunlatten. «Komm mit!» rief er zu Bläss hinüber, «ich gehe in die Stadt.» Der Hund aber schaute nur erstaunt drein und vergass vor lauter Verblüffung auch noch zu bellen. Das tut aber nichts zur Sache, er wäre ohnehin nicht mitgegangen. Er fürchtete sich nämlich sehr vor Autos.
Die Vorfreude auf die kommenden Erlebnisse beflügelte Turis alte Glieder, und seine Reise vom Oberland in die Stadt dauerte bloss zwei Tage. Um nicht zu viel Aufsehen zu erregen, und auch um ab und zu mal einen Happen Gras zu rupfen, folgte Turi nicht den Hauptstrassen. Er ging möglichst auf abgelegenen Wegen, zumindest solange das möglich war.
Am Ziel seiner Träume angelangt, stellte er dann zu seinem Erstaunen fest, dass die Menschen in der Stadt überhaupt keine Notiz von seiner Anwesenheit nahmen. Es schien, als ob es die Zürcher gewohnt wären, in ihrer Stadt Esel anzutreffen. Turi hielt sich allerdings an alle vernünftigen Verhaltensregeln: Er ging immer nur bei Grün über die Strasse und trat den Leuten aus dem Weg, wenn sie an ihm vorbei wollten.
Es war das Tram, das auf Turi einen gewaltigen Eindruck machte. Das ist ja auch zu verstehen, wenn man bedenkt, dass er nicht mehr so gut zu Fuss war. Turi stellte sich also kurzum zu einigen Leuten und wartete mit ihnen auf das Tram.
An einem Fensterplatz machte er es sich bequem und genoss mit seinem kindlichen Gemüt die Aussicht auf die Stadt. Das gefiel ihm so ausgezeichnet, dass er immer im gleichen Tramwagen von Endstation zu Endstation fuhr und sich kaum sattsehen konnte an all den wunderlichen Dingen, die er entdeckte. Und so würde er bestimmt noch heute hin- und herfahren, wenn nicht eine Billettkontrolle zugestiegen wäre und dem unschuldigen Treiben des Esels ein Ende gesetzt hätte. Turi hatte natürlich weder Billett noch Geld bei sich. Er wurde aus dem Tramwagen spediert. Da nützte auch die Intervention eines Fahrgastes nichts, der sich für ihn verwandte. Turi musste aussteigen an der Haltestelle Brandbachstrasse, dort, wo die grossstädtische Hast langsam zur Ruhe kommt. Nun stand er also verlassen da auf einer Traminsel, bitter enttäuscht, weil er um das herrliche Vergnügen seiner Tramfahrten gebracht worden war und sinnierte darüber nach, wie er denn zu Geld kommen könnte. Da fiel sein Blick auf das Schaufenster gegenüber: Otto Moser, Pferdemetzgerei
In seinem Eselskopf nahm eine Idee Gestalt an …
Als er die drei Treppenstufen zum Verkaufsladen hinaufstieg, kam es ihn dann schon ziemlich schwer an, aber auf das Tramfahren mochte er nun nicht mehr verzichten, um alles in der Welt nicht. Mit dem Kopf drückte er die Ladentüre auf und trat ein. Moser kam eben aus dem Kühlraum und machte riesengrosse Augen.

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«Weisst du», beginnt Stefan Sennhauser zu erzählen, indem er die Kaffeetasse in die Tischmitte schiebt, «weisst du, vor recht vielen Jahren, Mitte Oktober, da hatte ich in der Stadt Besorgungen zu machen. Nicht viele, nichts Wichtiges wohl, denn ich erinnere mich nicht mehr daran, weil alle meine Gedanken von einem alten Esel in Beschlag genommen wurden, der sich im Tram umständlich neben mich setzte. Sehr höflich erkundigte er sich, ob ich bis zur Endstation fahre und ob ich viel zu tun hätte. Wir kamen so miteinander ins Gespräch und pflegten bald eine angeregte Unterhaltung, in deren Verlauf er nach einigen Belanglosigkeiten anfing, mir seine Geschichte zu erzählen: Schon seit Wochen fuhr der Kauz durch die Stadt. Immer auf derselben Linie. Dies aber war nun seine letzte Fahrt, weil er kein Geld mehr hatte. An der Haltestelle Brandbachstrasse bat er mich eindringlich, mit ihm auszusteigen und ihn nicht allein zu lassen. Ich tat dem Narren den Gefallen und begleitete ihn auch noch über die Strasse bis vor den Metzgerladen, wo ich den verfluchten Rest der Geschichte erfuhr. Der drang in mich ein wie die Schneide eines Dolches, drohte mich umzuwerfen und wühlte in meiner Seele mit grobschlächtigen Händen.
«Wissen Sie, ein Esel in meinem Alter gilt nicht mehr viel. Ein paar Franken für das Kilogramm Lebendgewicht», sagte der Esel zu mir, «das reicht dann halt nur noch für einige Wochen Tramfahren und das nötigste Futter. Trotzdem – schön habe ich es gehabt in meinem Leben, wenigstens am Schluss.»
Vor der Glastüre drehte er sich noch einmal um: «Falls Sie einmal ins Oberland kommen, dann richten Sie bitte dem Bläss Grüsse aus. Das ist der Hund vom Bauern Weidmann in Steg, geradewegs hinter der Milchhütte.»
Er trat in den Laden. Ein Mädchen hielt ihm die Türe auf. Es schien ihn zu erwarten, und ich glaube, durch die Glastüre erkannt zu haben, dass es Turi zwischen seinen müden Ohren kraulte.»
Stefan Sennhauser schaut mich an, erwartungsvoll. Ich schiebe meine Kaffeetasse auch in die Mitte des Tisches. Austrinken mag ich nicht.